Schweden griff vor sieben Jahren durch: Wegen Gesundheitsrisiken und Umweltbelastung verbot das Umweltministerium den Gebrauch von Quecksilber gänzlich. Damit dürfen auch Zahnärzte keine Löcher mehr mit Amalgam stopfen. Norwegen, Dänemark, Russland und Japan kennen ebenfalls ein Verbot oder zumindest starke Einschränkungen.

Die Schweiz sieht das anders. 2009 lehnte der Bundesrat eine Motion ab, die Quecksilber in Zahnfüllungen verbieten wollte. Ein Verbot lasse sich «aus Gründen des Gesundheitsschutzes nicht rechtfertigen». Bei dieser Ansicht ist es bis heute geblieben. Und es ist ruhiger geworden ums Amalgam, früher ein medialer Zankapfel erster Güte. Auch weil es «nur noch in seltenen Fällen eingesetzt wird», sagt Marco Tackenberg, Mediensprecher bei der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft (SSO). Die optisch schöneren Kunststofffüllungen verdrängen das gräuliche Amalgam.

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Als Sondermüll zu entsorgen

Immerhin gut 10'000 Kilo Amalgam tragen Schweizerinnen und Schweizer gegenwärtig noch im Mund. Diese Menge verringere sich jährlich um 150 bis 350 Kilo, schätzt Tackenberg. Wie häufig Amalgam heute noch verwendet wird, weiss allerdings niemand. 2008 betrug der Amalgamanteil an verarbeiteten Zahnfüllungen laut SSO noch zehn Prozent – eine aktuelle Statistik führt der Verband nicht. Auch das Heilmittelinstitut Swissmedic – es ist auf Bundesebene für den Zahnfüllstoff zuständig – erfasst keine Zahlen.

Eigentlich erstaunlich. Denn was da die Zahnlöcher stopft, mutiert zu Gift, sobald die Füllung entfernt wird: Alle Zahnarztpraxen in der Schweiz müssen mit einem entsprechenden Abscheider ausgerüstet sein. Amalgamreste sind als Sondermüll zu entsorgen.

Das liegt an der Zusammensetzung. Amalgam ist eine metallische Verbindung, bestehend aus etwa 50 Prozent Quecksilber, daneben Silber, Zinn, Zink und Kupfer. Quecksilber ist hochgiftig; schon wenige Gramm sind tödlich. Typische Anzeichen einer Vergiftung sind zitternde Hände, Nervenschädigungen, Sehstörungen, Verhaltensstörungen und Lähmungen.

Leicht zu verarbeiten, kostengünstig

Trotzdem gibt die SSO Entwarnung: Korrekt verarbeitetes Amalgam zeige für den Träger «keinerlei toxische Effekte». Es werde schon seit fast 200 Jahren eingesetzt, habe eine lange Lebensdauer, sei leicht zu verarbeiten und deshalb relativ kostengünstig.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) äussert sich vorsichtiger zum Thema: «Laut aktuellem Kenntnisstand sind die derzeit vorhandenen Restaurationsmaterialien, einschliesslich Dentalamalgam, als sicher und zuverlässig zu betrachten. Allerdings kommt es gelegentlich zu biologischen Gegenanzeigen. Diese sind jedoch individuell bedingt und demgemäss individuell zu behandeln.»

Eine dieser «biologischen Gegenanzeigen» ist Hansjörg Kuster aus Diepoldsau SG. Der 57-jährige studierte Geograf litt jahrzehntelang an Gleichgewichtsstörungen, war oft antriebslos. Am Kantonsspital St. Gallen wollte man eine beginnende multiple Sklerose nicht ausschliessen. Kuster wechselte als Folge seiner gesundheitlichen Probleme häufig die Stelle und machte sich dann mit einem Büroservice selbständig – ohne Erfolg. Nur dank einer Erbschaft kommt er über die Runden. «Ich war arbeitsunfähig, fühlte mich nutzlos und wollte so nicht weiterleben», sagt er.

Der Heilpraktiker ortet Schwermetall

Nach einer Odyssee durch Arztpraxen und Spitäler landete Kuster schliesslich 2012 bei einem Heilpraktiker. Dieser diagnostizierte eine Schwermetallvergiftung durch Amalgam und empfahl, die quecksilberhaltigen Füllungen zu entfernen. Das geschah bei einem spezialisierten Zahnarzt, unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen.

Ausserdem machte Kuster diverse «Ausleitungen» beim Heilpraktiker, die das im Körper über Jahrzehnte gespeicherte Quecksilber reduzieren sollten. Kuster ist bewusst, dass diese Therapien für viele nur kostspieliger Hokuspokus sind – und dass nicht all seine Einschränkungen vom Amalgam herrühren. «Doch für mich zählt das Resultat. Seit der Amalgam-Entfernung und den Ausleitungen habe ich 80 bis 90 Prozent der Probleme nicht mehr oder nur noch stark vermindert.»

Hansjörg Kuster beruft sich unter anderem auf den deutschen Facharzt Joachim Mutter, der sich aus eigener Betroffenheit mit Amalgam beschäftigt. Mutter behandelt Patienten, die unter dessen Auswirkungen leiden. Er referiert und schreibt seit Jahrzehnten gegen die Amalgambefürworter an. Für ihn ist hinreichend belegt, dass «Amalgam zu Nierenschäden, Störungen im Nervensystem, Autismus, Autoimmunerkrankungen, Erschöpfung und chronischen Infekten führen kann».

«Die derzeit vorhandenen Restaurationsmaterialien, einschliesslich Dentalamalgam, sind laut aktuellem Kenntnisstand als sicher und zuverlässig zu betrachten.»

WHO, 1997

Mutter schätzt, dass es allein in Deutschland über 70 Milliarden Euro kosten würde, alle Gebisse von Amalgamträgern zu sanieren. Diese hohen Kosten und die Angst vor einer drohenden Prozesslawine für Hersteller und Zahnärzte seien der eigentliche Grund, weshalb man vor einem Amalgamverbot zurückschrecke. Das Ganze sei «ein Spielball der Politik», hält der Amalgamkritiker fest.

Die überwiegende Zahl wissenschaftlicher Studien erkennt keine Gesundheitsgefährdung durch Amalgam. Allerdings gibt es auch keine Untersuchung, die Amalgam als völlig frei von Nebenwirkungen bezeichnet. Dabei werden die Studienresultate, wie üblich bei solch kontroversen Fragestellungen, von Gegnern und Befürwortern in ganz unterschiedlicher Weise interpretiert. Und: Wie stark jemand unter dem Amalgam leidet, ist möglicherweise aufgrund genetischer oder erworbener Eigenschaften individuell verschieden.

Erhöhte Quecksilberwerte im Körper

Was gilt als gesichert? Personen mit Amalgamfüllungen sind im Durchschnitt vier- bis fünfmal so stark mit Quecksilber belastet wie solche ohne. Wer verschiedene Metalle im Mund hat, neben Amalgam etwa Gold, weist erhöhte Quecksilberwerte auf, da die Wechselwirkung kleinste Quecksilberteilchen aus dem Amalgam löst.

Beim Kauen entsteht ein feiner Abrieb. Dessen Verschlucken ist aber laut Bundesamt für Gesundheit ungefährlich, denn er «wird vom Verdauungstrakt nicht aufgenommen, sondern unverändert wieder ausgeschieden». Belastender sind hingegen Quecksilberdämpfe, die aus Amalgam entweichen können. Ein Grossteil gelangt über die Lunge ins Blut und wird vor allem im Fettgewebe eingelagert. In Organen Verstorbener lassen sich die Amalgambelastungen nachweisen.

«Amalgam [kann] zu Nierenschäden, Störungen im Nervensystem, Autoimmunerkrankungen [...] und Autismus führen.»

Joachim Mutter, Arzt, Amalgamkritiker

Die WHO hat abgeschätzt, wie viel Quecksilber ein Mensch aufnehmen kann, ohne davon krank zu werden. Die tatsächlich über die Nahrung (vor allem Fisch), via Atemluft oder aus Amalgamfüllungen aufgenommene Menge liegt unter diesem Wert und wird daher nicht als schädlich angesehen. Allerdings gibt es Empfehlungen, dass man bei Schwangeren und Nierengeschädigten kein Amalgam verwenden solle.

Politisch strebt man keine nationalen, sondern eine globale Regelung für Quecksilber und Dentalamalgam an. Bisher ist allerdings bloss eine laue Absichtserklärung herausgekommen: Die «Minamata-Konvention» des Umweltprogramms der Vereinten Nationen sieht seit 2013 vor, dass alle Vertragsparteien – darunter auch die Schweiz – Massnahmen für einen «schrittweisen Verzicht» auf Dentalamalgam treffen müssten.

«Teilnehmend darauf eingehen»

Auf europäischer Ebene macht sich vor allem Schweden für ein EU-weites Amalgamverbot stark, konnte bisher aber keine politischen Mehrheiten finden. Ein wissenschaftlicher Beratungsausschuss der EU kam 2014 zum Schluss, die Gesundheits- und Umweltgefährdung durch Dentalamalgam sei «verhältnismässig gering».

Was bedeutet das konkret für die Schweiz? «Im Prinzip nichts», sagt SSO-Sprecher Tackenberg, «denn die vagen Ziele der UN-Vereinbarung sind hierzulande und in den meisten westeuropäischen Staaten längst Usus.» Die SSO empfiehlt ihren Mitgliedern denn auch keinen Verzicht auf Amalgam, sondern bleibt nebulös wie die Uno: «Auf kausal dem Amalgam zugeschriebene somatische und funktionale Leiden ist im Einzelfall ernsthaft und teilnehmend einzugehen.»

Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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