Ist es ein stechender Schmerz oder eher ein brennender? Sitzt er in der Niere oder doch etwas tiefer? Die richtigen Worte finden sich oft nur mit Mühe. Dabei ist gerade beim Arztbesuch eine präzise Sprache wichtig: Missverständnisse können schlimme Folgen haben. Doch rund 200'000 Menschen in der Schweiz beherrschen keine der Landessprachen, schätzt das Bundesamt für Gesundheit. Oft können sich deshalb Arzt und Patient nicht direkt verständigen – und allzu oft übersetzen dann nicht Profis, sondern die Kinder der Patienten.

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So zeigen bisher unveröffentlichte Zahlen der Solothurner Spitäler AG und des Kantonsspitals Aarau, dass mehr als die Hälfte des medizinischen Personals mindestens gelegentlich Kinder als Dolmetscher einsetzt. Dies, obwohl beide Institutionen besonderen Wert auf die Verständigung mit fremdsprachigen Patienten legen, gehören sie doch zur Vereinigung der «Migrant Friendly Hospitals», den migrantenfreundlichen Spitälern, und verfügen über gut ausgebaute Übersetzungsdienste.

Dass über die Hälfte des medizinischen Personals gelegentlich Kinder übersetzen lässt, sei eine «vergleichsweise sehr gute Zahl», betont Nadia Di Bernardo Leimgruber, Beauftragte Integration der Solothurner Spitäler. In vielen Spitälern – von Arztpraxen ganz zu schweigen – sei diese Zahl höher: «Kinder als Dolmetscher sind leider keine Ausnahme, sondern Alltag.»

Wie übersetzt ein Kind «Leberzirrhose»?

Allerdings: Studien belegen, dass von Kindern übersetzte Gespräche zwischen Arzt und Patient aus medizinischer Sicht fast nie zufriedenstellend verlaufen. Denn auch perfekt zweisprachig aufwachsende Kinder kennen viele Wörter der Erwachsenenwelt noch nicht. Und statt nachzufragen, übersetzen sie bestimmte Inhalte einfach nicht oder bleiben vage. Die Dolmetscherin Vijaya Mahendran berichtet etwa von einem Patienten, der trotz Diagnose lange Zeit nichts von seiner Leberzirrhose wusste; sein Sohn hatte den Arzt nie verstanden, aber das nicht zu sagen getraut. Erst nach mehreren erfolglosen Sitzungen schaltete der Arzt endlich die professionelle Dolmetscherin ein.

Kinder beschönigen negative Nachrichten

Das eigentliche Problem liegt darin, dass Kinder die ihnen zugedachte Rolle gar nicht einnehmen können. Zu gross ist das Machtgefälle zu den Erwachsenen, zu gross die Unsicherheit, zu gross aber auch die emotionale Nähe zum Patienten. So geben viele Kinder negative Nachrichten nur stark beschönigt weiter, in der gut gemeinten Absicht, die Eltern damit zu schützen. Gleichzeitig meiden Patienten und Ärzte ihrerseits vor den Kindern wichtige Themen wie Sexualität und Sucht.

«Es ist nahezu unmöglich, unter diesen Umständen ein Gespräch nach professionellen medizinischen Gesichtspunkten zu führen», sagt Annika Schmidt-Glenewinkel, Autorin eines Sachbuchs zum Thema. «Ausserdem kann die Situation negative Folgen für die Kinder haben» – wenn ein Kind in Fragen von Krankheit, vielleicht sogar von Leben und Tod, die Eltern quasi betreuen und ihre Interessen vertreten muss, stelle das sämtliche Verhältnisse auf den Kopf. «Viele Kinder leiden darunter und geraten in entwicklungspsychologisch schwerwiegende Rollenkonflikte.»

Trotz all diesen Gefahren gibt es im Schweizer Gesundheitswesen keine verbindliche Regelung zum Einsatz von Kindern als Dolmetscher. «Ein eklatanter Missstand», findet Di Bernardo Leimgruber von den Solothurner Spitälern. «Es gibt genaue Vorschriften, wann und wie ein Verband gewechselt werden muss, und gleichzeitig ist eine so zentrale Frage wie die sprachliche Verständigung völliger Beliebigkeit überlassen.»

Das stört auch den Basler Hausarzt Daniel Gelzer, der viele fremdsprachige Patienten betreut. Trotzdem lässt er in der eigenen Praxis immer wieder Kinder übersetzen: «Bei einfachen Abklärungen, etwa kleineren Unfällen oder Infekten, ist das durchaus akzeptabel», sagt er. Für komplexere Dinge hingegen, etwa in der Beratung bei chronischen Krankheiten wie Diabetes, sei ein professioneller Dolmetscher zwingend. «Es stellt sich also die Frage, was man Kindern inhaltlich zumuten darf. Und vor allem, was nicht», sagt Gelzer. Das müsste für alle verbindlich beantwortet werden, nicht zuletzt, um die Versorgungsqualität sicherzustellen.

Gibt es ein Recht auf einen Dolmetscher im Spital?
Leserfrage: Ich betreue eine Geflüchtete aus dem Irak. Sie muss ins Spital. Hat sie ein Recht auf eine Dolmetscherin, oder muss ihr Kind übersetzen?
Im Schadensfall droht ein Prozess

Eine pragmatische, aber verbindliche Regelung, das fordert auch Di Bernardo Leimgruber. Denn ohne Verbindlichkeit bleibe das Recht auf gleiche Chancen und gleiche Behandlung – und darauf haben sich Bund, Kantone und Spitäler verpflichtet – ein blosses Lippenbekenntnis.

Immerhin sind Ärzte nicht nur aus medizinisch-ethischer, sondern auch aus rechtlicher Sicht für das Verständnis zwischen Arzt und Patient verantwortlich. Wenn sie dieses nicht sicherstellen, drohen ihnen im Schadensfall juristische Konsequenzen. Etwa wenn ein Patient geltend machen kann, dass er nicht im Detail über die Risiken einer Behandlung informiert wurde. Doch wann Ärzte ihre Pflicht als erfüllt ansehen dürfen, ist in der jetzigen Situation unklar.

Ärzte zahlen den Dolmetscher oft selber

Ebenso unklar ist die Frage, wer zahlt. Denn auch darum geht es: Kinder arbeiten gratis, Profis kosten Geld. Einige Kantone beteiligen sich an den Dolmetscherkosten ihrer Spitäler, andere nicht. Und Ärzte mit privater Praxis greifen in aller Regel sowieso in die eigene Tasche. Dazu Hausarzt Gelzer: «Die Kosten für Dolmetschdienste begleiche ich aus der Praxiskasse. Das den finanziell oft schlecht gestellten Patienten verrechnen zu wollen ist nicht realistisch.» Vor diesem Hintergrund scheint es verständlich, dass es sowohl vielen Ärzten wie Patienten meist gerade recht ist, wenn ein Kind zur Verfügung steht.

Unglücklich mit der Situation ist auch der Verband der Schweizer Spitäler H+. Er fordert, bei der laufenden Teilrevision des Ausländergesetzes «die Finanzierung der Dolmetschleistungen in Spitälern und Kliniken endlich national zu regeln». Die meisten Fachleute schlagen vor, diese Leistungen durch die Grundversicherung abzudecken. Dadurch würden fremdsprachige Patienten effizienter versorgt, was unter dem Strich günstiger wäre als die jetzige Situation. Gestützt wird diese Argumentation durch eine Kosten-Nutzen-Analyse des Bundesamts für Gesundheit und Studien aus anderen Ländern.

Einige Institutionen haben in den letzten Jahren zudem erfolgreich kostengünstige Lösungen erprobt. Di Bernardo Leimgruber etwa berichtet von sehr guten Erfahrungen der Solothurner Spitäler mit zweisprachigen Mitarbeitern, die in internen Weiterbildungen die wichtigsten Grundlagen des professionellen Dolmetschens erlernen. Auf nationaler Ebene hat das Bundesamt für Gesundheit einen Telefondolmetschdienst aufgebaut. Doch auch diese Lösungen gibt es nicht gratis. Und in den Kantonen sind die guten Beispiele eher bedroht, als dass sie anderswo übernommen würden. Denn allenthalben – auch im Kanton Solothurn – stehen Budgetkürzungen bevor. Die Forderung der Spitäler ist ein Hilferuf in der Not.

Zwei Vorstösse in Bundesbern scheiterten

Die Politik hat dafür bislang kein Gehör. Bereits zwei parlamentarische Vorstösse scheiterten mit dem Anliegen, die Finanzierung von Dolmetschleistungen in die Grundversicherung aufzunehmen. «Alles, was mit Leistungsausbau und überdies mit Migrationsfragen zusammenhängt, hat einen schweren Stand im Parlament», bedauert Di Bernardo Leimgruber.

Eine andere Lösung ist nicht in Sicht. So bleibt es allen Ärzten und Spitälern selber überlassen, die notwendige Finanzierung aufzutreiben. Weiterhin wird die Gesundheit von Patienten gefährdet und Kindern eine Verantwortung aufgebürdet, die sie nicht tragen können.

Luckshiya Thavam-Kugathasan: «Vieles habe ich nicht verstanden»

«Ich habe immer gern übersetzt», erzählt Luckshiya Thavam-Kugathasan. «Fast immer», fügt sie hinzu. Die heute 24-Jährige kam im ersten Lebensjahr aus Sri Lanka in die Schweiz. Beim Eintritt in den Kindergarten sprach sie noch kaum Deutsch, kurze Zeit später fliessend – Kinder lernen schnell.

Anders die Eltern: Nach einiger Zeit reicht es zwar für Alltägliches, alles andere bleibt schwierig. Luckshiya übersetzte daher bereits mit sieben für die Eltern, die jüngeren Schwestern, für Verwandte und Bekannte. In der Schule, auf Ämtern, beim Arzt.

Heute ist sie erstaunt, dass nie ein professioneller Dolmetscher hinzugezogen wurde: «Vieles habe ich damals inhaltlich nicht verstanden, aber übersetzt habe ich immer irgendetwas.» Manchmal kommen andere Schwierigkeiten hinzu: «Der Termin bei der Gynäkologin war ein Horror. Einmal wollte eine Ärztin wissen, wie die Patientin verhütet. Ich war 13 und empfand das Ganze als extrem peinlich – meine Übersetzung war alles andere als präzise.»

Durch das Dolmetschen kennt sich Luckshiya bald mit Sachen aus, von denen andere Kinder noch nie gehört haben. Aber als vollwertige Person nimmt man sie kaum wahr. Während ihre kleine Schwester nach einem schweren Unfall in der Notaufnahme zwischen Leben und Tod schwebt, übersetzt Luckshiya stundenlang für die Eltern und Ärzte. Niemand bemerkt, dass sie selbst unter Schock steht.

Für sich zieht sie dennoch eine positive Bilanz: «Das Dolmetschen hat mich meinen Eltern sehr nahe gebracht. Und es hat wohl auch einigen Einfluss darauf gehabt, dass ich heute als Pflegefachfrau in der Psychiatrie arbeite.» Trotzdem rät sie klar davon ab, Kinder beim Arztbesuch dolmetschen zu lassen.