«Heiler ist der älteste Beruf der Menschheit»
Wohl keiner kennt die Rezepte und Tricks der Heiler auf Neuguinea so gut wie Wulf Schiefenhövel. Der Ethnomediziner hat die Naturvölker während Jahrzehnten erforscht.
Veröffentlicht am 30. März 2012 - 10:31 Uhr
BeobachterNatur: Herr Schiefenhövel, Sie haben sich fast 50 Jahre lang mit Naturvölkern beschäftigt. Welche Rolle spielen da die Schamanen?
Schiefenhövel: Ich mag das Wort Schamane nicht. Ich spreche lieber von Heilkundigen. Solche Männer und Frauen gibt es bei jedem indigenen Volk.
BeobachterNatur: Warum haben Heiler einen besonderen Status?
Schiefenhövel: Heiler ist der älteste Beruf der Menschheit. Am ersten Feuer, das Menschen entzündeten, sass ein Heiler mit im Kreis. Die Menschen brauchten immer Heiler und Hebammen. Die wichtigste Aufgabe der Heiler ist es, die Angst vor Krankheit und Geburt zu mindern. Ihre primär psychosomatische Therapie führt dazu, dass die Patienten sich besser fühlen. Das ist entscheidend, wie wir aus Sicht der modernen Medizin wissen. Denn wenn ich ängstlich oder depressiv bin, steht es auch schlecht um mein Immunsystem.
BeobachterNatur: Wie muss man sich eine solche Therapie im Dschungel vorstellen?
Schiefenhövel: Das Muster ist stets dasselbe, ob in Papua-Neuguinea, in der Kalahari oder am Amazonas: Die Heiler nehmen in religiösen Ritualen Kontakt mit der Welt ausserhalb des Menschen auf, wo die mächtigen Instanzen sind – bei vielen Naturvölkern ist das die Sphäre der Geister.
BeobachterNatur: Hat das Anrufen der Geister Erfolg?
Schiefenhövel: Natürlich. Es ist ja nicht nur die Psychosomatik, die hier zum Tragen kommt. Diese Heilkunst ist zum Teil auch knallharte Pharmakologie. Die indigenen Völker kennen sich oft sehr gut mit Heilpflanzen aus. Fast alle Völker haben eine Taxonomie entwickelt, ein System von Pflanzennamen, das dem unsrigen entspricht. Sie geben nicht einfach alle rot oder gelb blühenden Pflanzen in einen Topf, sondern ordnen Korbblütler und Steinbrechgewächse eigenen Gruppen zu – das ist das Unglaubliche, Verrückte. Es gibt bei solchen Stämmen Pflanzenkundige, die stecken jeden Botaniker mit links in die Tasche. Wir hatten einmal zwei Botanikprofessoren im Team, die erst nach einem halben Jahr Arbeit mit Herbarexemplaren herausfanden, dass die Einheimischen doch mit ihrer Klassifizierung recht gehabt hatten.
BeobachterNatur: Und haben diese Pflanzen tatsächlich eine Wirkung?
Schiefenhövel: Der Urwald ist quasi eine Apotheke. In vielen Pflanzen stecken pharmakologisch aktive Stoffe, wie sie sich auch in unseren Medikamenten finden. Ich selber hatte mal eine infizierte Wunde am Knie. Ein Heiler spuckte einen Pflanzenbrei darauf, den er zuvor sorgfältig gekaut hatte. Ich war da als Arzt sehr skeptisch. Doch nach ein paar Tagen war die Wunde wunderbar verkrustet und heilte prima.
BeobachterNatur: Sind die exotischen Heiler den westlichen Medizinern gar überlegen?
Schiefenhövel: Nein. Man darf sie nicht zu Superärzten hochjubeln. Vieles, was dort in der traditionellen Therapie geschieht, besteht aus Taschenspielertricks.
BeobachterNatur: Wie funktionieren die?
Schiefenhövel: Einer alten Frau, die unter starker Blutarmut litt, holte ein blinder Heiler ein zwölf Zentimeter langes Stück Draht aus dem Rücken. In einem anderen Fall war es eine Pfeilspitze. Tatsächlich zog er die Gegenstände aus seinem Hodensack hervor; er hatte sie in einem Kanal in der Leistengegend versteckt. Dafür muss man aber erst die Haut durchbohren. Es war die mit Abstand spektakulärste Behandlung, die ich je miterlebt habe.
BeobachterNatur: Warum wendet der Heiler diese Methode an?
Schiefenhövel: Es ist eine weltweit verbreitete Idee, die sich Extraktionszauber nennt. Demnach entsteht eine Krankheit, weil ein Fremdkörper in den Körper eindringt. Es können aber auch Geister sein, die sich im Zuge der rituellen Therapie in physikalische Materie verwandeln, die dann herausgeholt wird. Es gibt weitere Analogievorstellungen, die auf der ganzen Welt benutzt werden. Wenn das Kind nicht wächst, streicht man es mit Schweineblut ein, weil das Schwein ein kräftiges, mächtiges Tier ist.
BeobachterNatur: Das erinnert an den Grundgedanken der Homöopathie – Gleiches wird mit Gleichem behandelt.
Schiefenhövel: Similia similibus curentur, der Kernspruch der Homöopathie von Hahnemann: haargenau dieselbe Sache. Eigentlich eine abenteuerliche Vorstellung! Aber auch eine Hilfe. Dann muss ich nicht alle 5000 Pflanzen ausprobieren, sondern gehe von der Signaturenlehre aus. Mit Glück finde ich ein Pflänzchen wie die Anemone hepatica, das Leberblümchen, das auf die Leber positiv wirkt. Das ist eine symbolischreligiöse Grundvorstellung. Ich suche die Signatur, die Gott in der Natur versteckt hat, damit ich diese Pflanze finde und einsetze.
BeobachterNatur: Zurück zum Extraktionszauber der Heiler. Durchschauen die Einheimischen diese Tricks denn nicht? Man sieht doch, dass nicht «operiert» wurde.
Schiefenhövel: Die Einheimischen machen sich da wenig Gedanken. Der Vorgang ist ihnen nicht materiell-physikalisch wichtig, sondern als Ritus. Im Übrigen gibt es genug westliche Menschen, die auf solche Tricks hereinfallen und alles für bare Münze nehmen. Sie lassen sich etwa von philippinischen Heilern, die sich «geistige Chirurgen» nennen, operieren. Ohne Messer. Das Blut, das trotzdem fliesst, kommt aus einem Wattebausch. Diese Leute sind sehr geschickt, die Illusion ist fast perfekt. Wenn Einheimische so behandelt werden, ist das in Ordnung. Wenn aber Weisse deswegen eine vernünftige Therapie versäumen, müsste man das Schwert des Aufklärers zücken. Anderseits handelt es sich oft um Patienten, die durch alle Raster unserer modernen Medizin gefallen und völlig verzweifelt sind. Ihnen das zu nehmen, was sie subjektiv als letzte Chance empfinden, wäre nicht richtig. Und psychosomatische Wirkungen gibt es natürlich auch bei Weissen.
BeobachterNatur: Viele glauben bei solchen Heilungen an paranormale Wirkungen. Sie nicht?
Schiefenhövel: Ich bin knallharter Naturwissenschaftler. Aus meiner Sicht ist sonnenklar, dass die Behandlungen keine parapsychologischen oder paranormalen Effekte haben.
BeobachterNatur: Aber in erstaunlich vielen Fällen tritt eine Heilung ein.
Schiefenhövel: Dann handelt es sich um eine Spontanheilung, also eine Selbstheilung, die durch einen psychischen Effekt angeschoben wird. Spontanheilungen sind übrigens gar nicht so selten, selbst bei Krebskranken.
BeobachterNatur: Ist es also der Glaube an die Behandlung, der letztlich hilft?
Schiefenhövel: Wenn man daran glaubt, ist es bestimmt einfacher. Es kann sein, dass diese Placeboeffekte auch auf andere Weise eintreten. Wir wissen es schlicht und einfach nicht. Der Placeboeffekt ist zu Unrecht wenig erforscht.
BeobachterNatur: Haben Heilrituale ein gemeinsames Muster?
Schiefenhövel: Alle tragen ein religiöses Gewand. Vom Schweizer Heiler, der seine Hand auf eine Busladung schlimmer Raucher legt über den sibirischen Schamanen im Bärenfell bis zum Heiler in West-Neuguinea: Überall ist das Faszinosum des Sakralen. Alles ist religiös aufgeladen. Wenn nicht klassisch religiös, dann esoterisch.
BeobachterNatur: Wie wichtig ist die Show?
Schiefenhövel: Sie hat enorme Bedeutung. Viele dieser Heilungen geschehen vor Publikum, sind ein regelrechtes Spektakel, für das die Leute von weit her kommen. Diese Öffentlichkeit wirkt stark. Der Kranke, der oft reaktiv depressiv ist, weil er nicht weiss, was mit ihm los ist, und denkt, dass er sterben muss, steht im Fokus der Aufmerksamkeit der anderen.
BeobachterNatur: Und dieses Gefühl trägt zur Genesung bei?
Schiefenhövel: In diesen Kulturen ist Krankheit ein Zustand, der nicht mit normalen Geschehnissen erklärt wird. Der Betreffende glaubt, er sei krank geworden, weil er einen sozialen Fehler gemacht, eine «Sünde» begangen habe. Und dieser Fehltritt wird ihm dann coram publico von der Gemeinschaft verziehen. Diese Art von Versündigungsidee kennt man übrigens auch bei uns. Als Ministrant wurde mir noch gesagt: Gott wird euch strafen an dem Organ, mit dem ihr gesündigt habt. Welches Organ damit gemeint war, war klar.
BeobachterNatur: Weshalb soll ein Vergehen ausgerechnet mit Krankheit bestraft werden?
Schiefenhövel: Weil die Strafe einen da trifft, wo es am wichtigsten ist: bei der Gesundheit. So werden einfache Vorstellungen des Rechtssystems und der Medizin aufs Engste miteinander verknüpft. Und weil immer wieder jemand krank ist und immer irgendwelche Leute «Sünden» begehen, ist dieses System nicht falsifizierbar.
BeobachterNatur: Und wie erklärt man sich den Tod? Auch mit einer Strafe?
Schiefenhövel: Abgesehen vom Tod alter Menschen gilt es immer als eine Folge der Bestrafung oder der Verzauberung durch schwarze Magie, wenn jemand stirbt. In allen anderen Fällen ist der natürliche Tod ein unbekanntes Konzept. Die Eipo in der indonesischen Provinz Papua sagen, dass jemand seine Lebensenergie verbrannt habe. Doch wenn jemand vom Baum fällt oder im Krieg tödlich verwundet wird, ist immer ein böser Zauber oder der strafende Eingriff eines Geistes schuld. Daran glauben selbst akademisch gebildete Papua. Diese Vorstellung sitzt tief, die verschwindet nicht so schnell.
BeobachterNatur: Was geschieht mit denjenigen, die man des bösen Zaubers beschuldigt?
Schiefenhövel: Die werden ausgegrenzt, verfolgt oder gar getötet. Meist trifft es die Randständigen. Menschen, die keine starke Stellung in der Gruppe haben, die nur schlecht in der Gesellschaft verankert sind. Einer Albinofrau, die ich noch 2009 besucht hatte, wurde vorgeworfen, schuld am Tod eines Mannes zu sein. Weil die Eipo, seit sie 1980 zum Christentum konvertiert sind, nicht mehr töten dürfen, wurde die Frau ans Kreuz gebunden, bis sie nach vier Tagen und Nächten ihren Geist aufgab. Einige der Beschuldigten werden nicht gekreuzigt, sondern sozial so verfolgt, dass sie Selbstmord begehen. Und manche Beschuldigte sterben, weil sie sich selbst aufgeben – da wirkt die Psychosomatik in die andere Richtung.
BeobachterNatur: Der «Todeszauber» wirkt aufgrund von Fremdhypnose und Autosuggestion?
Schiefenhövel: Warum Leute sterben, wenn sie Ziel eines solchen Zaubers waren, hat Walter B. Cannon in seiner berühmten Arbeit «Voodoo Death» von 1942 untersucht. Dieser Zauber lässt sich prima erklären: Die Leute wissen davon. Insofern basiert Voodoo auf einem physiologisch-somatischen Effekt.
BeobachterNatur: Können auch Heiler als böse Zauberer verunglimpft werden?
Schiefenhövel: Klar. Wenn man davon ausgeht, dass es Leute gibt, die Zugang zur Geisterwelt haben, die bewirken können, dass jemand gesund wird, dann sind dieselben Leute auch die richtigen Ansprechpersonen, wenn es um schwarze Magie geht.
BeobachterNatur: Heiler können also auch Hexer sein?
Schiefenhövel: Ja, häufig. Wenn jemand die Geister rufen und einem die Krankheit nehmen kann, wird er gleichzeitig auch gefürchtet als jemand, der Krankheit bringen und Menschen verzaubern kann. Wenn ein Heiler seine gesellschaftliche Stellung verliert, wird er vertrieben oder getötet. Wie schnell das passiert, habe ich selbst erlebt: Der Vater eines meiner besten Informanten ist so ums Leben gekommen. Diese Janusgesichtigkeit der Heiler ist ein grosses Problem.
BeobachterNatur: Wie erklären Sie sich die Faszination für exotische Praktiken und Heilsversprechen?
Schiefenhövel: Die klassische Religion hat ihre Rolle verloren, sie kann dem Wahrheitsanspruch nicht mehr genügen. Die Kirche hat selber Dreck am Stecken, Stichwort pädophile Priester. Die neuen Angebote sind da, die Leute kommen leichter in Kontakt mit anderen Religionen und religionsähnlichen Bewegungen.
BeobachterNatur: Braucht der Mensch Religion oder zumindest einen Religionsersatz?
Schiefenhövel: Die extreme Religiosität ist Teil unserer Biologie. Und sie war bei unseren Vorfahren auch sinnvoll. Denn wenn das Erdbeben von einem Erdgeist kommt, der sich im Schlaf bewegt, und wenn Unfruchtbarkeit und Krankheit von einer höheren Macht geschickt werden, dann habe ich eine Erklärung gefunden für das Unergründliche, Schreckliche, dann ist mein Bedürfnis, einen Grund für das alles zu kennen, erfüllt. Nichts ist schlimmer, als keine Erklärung zu haben. Ob sie richtig oder falsch ist, ist schnurzegal.
BeobachterNatur: Und dieses Bedürfnis nach Erklärung ist die Wurzel der Religion?
Schiefenhövel: Ja. Meiner Meinung nach ist es weniger die Angst vor dem Tod. In Neuguinea beispielsweise ist diese Angst nicht ausgeprägt. Ich habe junge Menschen sterben sehen, die nicht den geringsten Anflug von Angst oder Panik zeigten. Da war gar nichts. Das Anbinden an eine Macht, die für alles auf der Welt verantwortlich ist, das Vertrauen auf einen Felsen, der nicht verrückt werden kann, das ist es, was die Menschen wollen, was sie brauchen. Und dieses Urbedürfnis wird bedient, ob ich einem amerikanischen TV-Prediger zuhöre oder mich von einem Show-Schamanen in einer Turnhalle voller Menschen behandeln lasse – es ist alles dieselbe Chose. Unsere Naturwissenschaft hingegen, die geht den meisten Menschen sprichwörtlich am Hinterteil vorbei.
Wulf Schiefenhövel
Wulf Schiefenhövel, 68, erforscht seit 1965 den Alltag und die Medizinsysteme der letzten Naturvölker. Er lebte während rund 30 Monaten bei den Eipo in West-Neuguinea, einem bis 1974 von der Aussenwelt abgeschnittenen kriegerischen Volk. Der Ethnomediziner spricht fünf lokale Sprachen, hat über 300 Studien und 20 Bücher publiziert und zählt auf seinem Gebiet zu den wichtigsten Experten Europas.