Keine Angst vor den Spritzen
Viele Diabetes-Betroffene sind Insulinspritzen gegenüber skeptisch. Bedenken wie Gewichtszunahme oder Unterzuckerungen halten sich hartnäckig. Ein Diabetes-Arzt ordnet ein, was wirklich stimmt.
aktualisiert am 8. November 2018 - 09:13 Uhr
«Wenn Sie meine Anweisungen nicht befolgen, werden Sie über kurz oder lang Insulin spritzen müssen!» – diese unbedachte Aussage bekommen Diabetes-Betroffene leider manchmal von ihrem Arzt zu hören. Da ist es verständlich, dass eine Insulintherapie abgelehnt wird, wenn Insulin als Strafe angedroht worden ist.
Manche Menschen mit Typ-2-Diabetes weigern sich denn auch zunächst kategorisch, einen Versuch mit Insulin zu unternehmen. Die Liste der Vorbehalte ist lang:
- Insulin ist eine Einbahnstrasse (stimmt nur teilweise)
- Insulin schränkt die Bewegungsfreiheit zeitlich, örtlich und sozial ein (stimmt nicht)
- Insulin zu spritzen bedeutet, einen schweren Diabetes zu haben (trifft nicht zu)
- Insulin verursacht Hunger (stimmt nur teilweise)
- Insulin macht dick (stimmt teilweise)
- Insulin verursacht Unterzuckerungen (trifft nicht zu)
- Insulin ist die Strafe für begangene (Diät-) Sünden (stimmt nicht)
- Insulin ist nichts für alte Leute (stimmt nicht)
- Zur Umstellung auf Insulin muss man ins Spital (stimmt nicht)
- Insulin bedeutet genaueres Kontrollieren und Einhalten von Nahrungsanweisungen (trifft teilweise zu)
Doch Insulin hat es verdient, positiver dargestellt zu werden, denn eines ist sicher: Es nützt immer! Und da das Wohlbefinden unter Insulin oft deutlich besser wird, ist der Wunsch, mit der Therapie wieder aufzuhören, sehr selten.
Fall von Heinz P., 50 Jahre: «Ich glaube, mein Diabetes muss besser eingestellt werden. Ich bin seit mehreren Wochen müde und schlapp , muss mehrmals pro Nacht auf die Toilette und habe ungewollt 4 Kilogramm abgenommen. Ich will aber kein Insulin spritzen.»
Heinz P. liess sich aber von seiner Ärztin überzeugen, Insulin mal versuchsweise zu spritzen. Vier Wochen später fühlt sich Herr P. wieder gesund und ist voller Tatendrang. Er ist froh, dass er den Rat seiner Ärztin befolgte.
Die Ansicht, eine Insulintherapie führe zu einer Gewichtszunahme, ist weit verbreitet und trifft auch häufig zu. Allerdings ist eine gute Stoffwechselkontrolle klar wichtiger als der Grad des Übergewichts . Es hilft, den Mechanismus hinter einem allfälligen Gewichtsanstieg zu verstehen.
Die Insulintherapie beziehungsweise die bessere Blutzuckerkontrolle führt dazu, dass sich der Wasserhaushalt des Körpers wieder normalisiert. Wegen des häufigen Wasserlassens bei dauerhaft hohem Blutzucker sind schlecht eingestellte Diabetiker «entwässert» beziehungsweise «ausgetrocknet», was sich in fallenden Kilos äussert.
Zudem lässt unter Insulin die Zuckerausscheidung im Urin nach, was zwangsläufig zu einem erhöhten Angebot an verwertbaren Kalorien führt. Deshalb muss bei einer verbesserten Diabeteseinstellung die Kalorienzufuhr etwas gebremst werden, sonst ist eine Gewichtszunahme unvermeidlich.
Typ-2-Diabetes ist eine fortschreitende Krankheit . Er hat ein Eigenleben und es gibt bisher keine sichere Möglichkeit, den langsamen, aber stetigen Rückgang der Eigenproduktion von Insulin in der Bauchspeicheldrüse ganz aufzuhalten. Auch Menschen, die einen diabetesfreundlichen Lebensstil pflegen, müssen bei einer langen Krankheitsdauer damit rechnen, dass dereinst Insulin nötig werden könnte, um eine gute Stoffwechselkontrolle aufrechtzuerhalten. In der Fachsprache nennt man das ein «Sekundärversagen auf orale Antidiabetika».
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass man mit einer guten Einstellung des Diabetes mikrovaskulären Folgeschäden , die hauptsächlich an Augen, Nieren und Nerven auftreten, wirksam vorbeugen kann. Es lässt sich aber kein allgemeingültiger Zeitpunkt festlegen, wann im Verlauf der Krankheit auf Insulin umgestellt werden sollte. Dies ist abhängig vom Alter der Betroffenen, der Lebenserwartung und dem Schweregrad zusätzlicher Begleiterkrankungen. Generell kann man sagen, dass eine Insulintherapie bei jüngeren Menschen früher begonnen werden sollte.
Eine Behandlung mit Insulin ist zu keinem Zeitpunkt der Erkrankung falsch. Es kann auch bereits bei der Diagnosestellung Insulin eingesetzt werden. Vereinzelte Betroffene wünschen dies auch so.
- Schlechte Stoffwechselkontrolle trotz korrekter Ernährung und Behandlung mit (oralen) Antidiabetika
- Symptome von hohem Blutzucker wie Müdigkeit, Muskelschwäche, hohe Trinkmenge, Niedergeschlagenheit
- Unbeabsichtigter Gewichtsverlust durch eine hohe Zuckerausscheidung im Urin
- Wiederholte Infekte vor allem der Haut und Schleimhäute; Scheidenpilz, Entzündungen der Vorhaut und Eichel, Blasenentzündungen
- Lange Diabetesdauer
- (Verdacht auf) Typ-1-Diabetes
- Gänzlicher Wirkungsverlust der Medikamente. Dies lässt sich einfach testen: Obwohl die Betroffenen – nach Rücksprache mit der Ärztin oder dem Arzt! – die Diabetesmedikamente weglassen, steigt der Blutzucker nicht noch weiter an.
- Akuter Herzinfarkt (für mindestens 3 Monate nach dem Infarkt)
- Schmerzhafte Neuropathie (Nervenschädigung aufgrund dauerhaft erhöhter Blutzuckerwerte, daraus resultieren brenndende, bohrende Schmerzen, Ameisenlaufen, Taubheitsgefühl bis hin zu einer verringerten Schmerz- und Temperaturempfindlichkeit)
Am häufigsten braucht es eine Insulintherapie, wenn die vernünftig und individuell festgelegten Therapieziele mit den zur Verfügung stehenden Medikamenten und den für den Einzelnen möglichen Massnahmen bezüglich Lebensstil nicht erreicht werden.
Zudem ist bei der Diagnosestellung nicht immer bereits klar, ob ein Typ-1- oder ein Typ-2-Diabetes vorliegt. Manchmal kann man dies mit einer speziellen Blutuntersuchung feststellen. Zuweilen lässt sich die Diagnose aber erst rückblickend stellen aufgrund des Krankheitsverlaufs. Immerhin rund zehn Prozent aller im Erwachsenenalter neu entdeckten Diabetikerinnen und Diabetiker haben einen Typ- 1-Diabetes. Ein entsprechender Verdacht kommt insbesondere bei schlanken Menschen, bei schlechtem oder gänzlich fehlendem Ansprechen auf orale Antidiabetika, bei negativer Familienanamnese und bei Fehlen von hohem Blutdruck oder Fettstoffwechselstörungen auf. Typ-1-Betroffene bedürfen immer einer Insulintherapie.
Gelegentlich wird eine Insulintherapie bewusst nur zeitlich begrenzt eingesetzt:
- Bei einer Krankheit oder einer Operation besteht ein erhöhter Insulinbedarf
- Während einer Cortisontherapie ist die Insulinresistenz stark erhöht
- In der zweiten Hälfte einer Schwangerschaft braucht die werdende Mutter immer mehr Insulin. Die Stoffwechselkontrolle muss zum Wohl des Kindes optimal sein – dies wird am besten erreicht mit einer Insulintherapie
Finden diese Ausnahmesituationen ein Ende, kann das Insulin auf Wunsch wieder gestoppt werden.
Karl Scheidegger war während 30 Jahren Spezialarzt für Diabetes und Hormonkrankheiten in einer eigenen Praxis in St. Gallen. Parallel zu seiner ärztlichen Tätigkeit ist er Redaktor des «D-Journals», der offiziellen Zeitschrift der Organisation «diabetessschweiz».