Beobachter: Es gibt den Vorwurf, Lehrer würden heute Eltern zwingen, ihrem zappligen Kind Ritalin zu geben, wenn es mit auf die Schulreise will. Mythos oder Realität?
Martin Brunner: Mythos! Allenfalls wird in Extremfällen ein gewisser Druck aufgesetzt: Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Kind, das nicht in der Lage ist, Anweisungen zu befolgen. Das sich bei der Schulreise an den Rheinfall aufs Geländer stellt Entweder Sie haben eine Person, die nur auf dieses eine Kind aufpasst, oder Sie haben Gewähr, dass es für die Schulreise in der Lage ist, sich zu steuern.

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Beobachter: Unter dem Einfluss von Ritalin…
Brunner: Oder einem ähnlichen Präparat. In der Regel sind Schulpsychologen aber zurückhaltend mit der Empfehlung für medikamentöse Behandlungen. Und kein seriöser Arzt würde Ritalin derart punktuell verschreiben. Medikamente werden nötig, wenn andere Massnahmen keine Besserung gebracht haben. In solchen Fällen können sie segensreich sein und ihre Verweigerung unverantwortlich.

Beobachter: Warum?
Brunner: Manchmal geht die Störung so weit, dass das Kind die ganze Klasse aufmischt. Das ist für den Lehrer und die Klasse schwierig, aber noch viel schwieriger für das Kind, das am meisten unter der Situation leidet. Und die Gefahr sekundärer psychischer Störungen wie Depressionen oder Angstzustände ist in solch schweren Fällen von ADHS gross.

Beobachter: Gibt es eine einheitliche Doktrin, wie mit verhaltensauffälligen Kindern umgegangen werden soll?
Brunner: Nein. Das ist von vielen Faktoren abhängig: vom Ausmass der Störung, von der Klassengrösse, von den schulinternen Stützangeboten, von der Haltung der Eltern oder auch vom Geschick des Lehrers. Und: Pädagogische, psychotherapeutische, medikamentöse und andere Hilfestellungen sind in der Regel keine sich widersprechenden, sondern sich ergänzenden Massnahmen. Darunter fallen auch Gruppentrainings, die zwar weniger für die Unruhe, wohl aber für die Affektsteuerung gute Ergebnisse zeigen.

Beobachter: Hat die Zahl der Schulkinder, die unter Ritalin-Einfluss stehen, zugenommen?
Brunner: Ihre Recherchen legen das nahe. Und das überrascht mich auch nicht: Denn die Akzeptanz von Ritalin und ähnlichen Präparaten ist wohl auch deshalb gestiegen, weil die Medikamente schlicht besser geworden sind. Hinzu kommt: «Verhaltensstörung» ist ein normativer Begriff. Was gestern «normal» war, gilt heute als «gestört». In dem Masse, wie eine Gesellschaft «Normalität» einfordert beziehungsweise wie Normen sich verändern, in dem Masse verändert sich auch die Akzeptanz einer medikamentösen Behandlung beziehungsweise die Bereitschaft dazu.

Beobachter: Halten Sie das für eine gesunde Entwicklung?
Brunner: Nein. Aber ich stelle fest: Es gibt in der Diskussion um die Schule zwei sich widersprechende Tendenzen. Die eine fordert Leistung auf Kosten sozialer Kompetenzen. Die andere meint, dass gerade die Verschiedenartigkeit der Kinder das Normale sei. Je nachdem, wo Sie stehen, beantworten Sie die Frage anders. Die Schule befindet sich just in diesem Dilemma: Sie wird kritisiert, weil sie zu wenig leistungsorientiert sei – Stichwort «Wohlfühlschule» –, anderseits muss sie, um mit der Heterogenität umgehen zu können, einen Spielraum genau in diese Richtung haben.

Beobachter: Wie ist Ihre persönliche Haltung zu Ritalin?
Brunner: Mein Grundsatz lautet: So wenig medikamentöse Behandlung wie möglich, aber so viel wie nötig. Das subjektive Leiden des Kindes muss immer im Zentrum stehen – und der Einzelfall. Denn was Lehrer X erträgt, erträgt Lehrerin Y vielleicht nicht. Und was in einer Klasse möglich ist, ist nicht möglich in einer andern.

Beobachter: Wie verändert sich ein Kind im Schulverbund, wenn es Ritalin nimmt?
Brunner: Nicht alle Kinder reagieren gleich auf Ritalin. Im günstigsten Fall steigt die Fähigkeit, Aufmerksamkeit, Emotionen, Affekte und Kraftdosierung besser zu steuern. Dadurch kann eine Negativspirale verhindert werden, die oft in depressiven Entwicklungen endet. Im ungünstigsten Fall bewirkt das Medikament entweder gar nichts oder es führt zu unerwünschten Veränderungen nicht des Wesens, aber der Art, wie das Kind die Dinge wahrnimmt, erlebt und damit umgeht. Die Kunst der Medizin besteht darin, diejenige Medikation zu finden, die bei grösstmöglichem Effekt die geringsten unerwünschten Nebenwirkungen hat.

Beobachter: Hat die Schule vermehrt ein Problem mit Kindern, die nicht ins «Normal-Schema» passen?
Brunner: Es gibt – wie bereits erwähnt – gesellschaftliche Tendenzen, die heute vermehrt die «Leistungsschule» fordern. Doch der Preis für eine übertriebene Leistungsorientierung ist ein erhöhter Druck Richtung angepasstes Verhalten. Kinder mit ADHS haben just hier ein Problem, für das sie nichts können. Sie laufen unter solchen Bedingungen Gefahr unterzugehen.

Beobachter: Viele Eltern haben Vorbehalte gegenüber dem schulpsychologischen Dienst im Sinne von: «Wehe, dein Kind gerät einmal in diese Maschinerie!» Was sagen Sie diesen Eltern?
Brunner: Ich sage ihnen: «Sie müssen nichts. Sie kommen freiwillig zu uns. Und es steht Ihnen frei, unsere Empfehlungen anzunehmen oder nicht.» Insofern können Eltern nichts verlieren. Aber sie können etwas gewinnen: eine Drittmeinung, die ihnen und der Schule dabei hilft, in einer schwierigen Situation Unterstützung zu bekommen oder eine bisher nicht erkannte Lösung zu sehen.

Beobachter: Haben Sie selber Kinder?
Brunner: Ja, zwei. Und ich weiss aus eigener Erfahrung, was eine schwierige Schullaufbahn für alle Beteiligten bedeutet…