Eltern behinderter Kinder wehren sich vor Gericht
Dutzende Kinder kamen mit Behinderungen zur Welt, weil ihre Mütter auf Anraten von Ärzten das Epilepsiemedikament Depakine schluckten. Jetzt wehren sie sich vor Gericht.
Veröffentlicht am 9. Januar 2020 - 10:44 Uhr
Als Epilepsiepatientinnen schluckten sie auf Anraten ihrer Ärzte das Medikament Depakine mit dem Wirkstoff Valproat – obschon sie schwanger waren. Ihre Kinder kamen mit Missbildungen auf die Welt oder leiden inzwischen an teils schwerwiegenden Entwicklungsstörungen.
Im Beobachter schilderte Gabriela O.* , welche Hürden sie mit ihren beiden Kindern im Alltag meistern muss – und wie sie von Ärzten alleine gelassen wurde. Aus ihrer Krankenakte erfuhr sie Jahre später, wie ihr Neurologe während der Schwangerschaft an der Medikation festhielt, obschon er von der schädigenden Wirkung für Ungeborene wusste.
Jetzt ist der Fall der Depakine-Opfer ein Fall für die Justiz. Einerseits reichten die Anwälte von zehn betroffenen Kindern Klage gegen Sanofi ein, wie die Sonntagszeitung berichtete. Zum anderen geht nun auch die Invalidenversicherung (IV) juristisch gegen den Pharmakonzern vor, wie Rolf Camenzind vom Bundesamt für Sozialversicherung bestätigt.
Nachdem in drei Fällen Aussöhnungsversuche mit Sanofi gescheitert seien, habe das Bundesamt für Sozialversicherung beim zuständigen Gericht eine vorsorgliche Beweisführung beantragt. Ob es auch zu Regressklagen gegen Sanofo und die beteiligten Ärzte kommt, ist noch offen.
Offensichtlich befürchtet die Invalidenversicherung, dereinst für eine unbekannte Zahl von Geschädigten hohe finanzielle Leistungen erbringen zu müssen. Wie viele Kinder in der Schweiz von Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen betroffen sind, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft den Wirkstoff Valproat eingenommen hatten, ist nicht bekannt. In einem aktuellen Bericht des Bundesrats schreibt die Heilmittelbehörde Swissmedic von 39 Meldungen über Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen zwischen 1994 und 2018.
Das Problem: In der Schweiz sind schwerwiegende Nebenwirkungen von Medikamenten erst seit 2002 meldepflichtig. Noch vor zwei Jahren sprach Swissmedic von weniger als 30 Fällen. Gut möglich, dass die Zahl betroffener Kinder in der Schweiz wesentlich höher ist. Allerdings dürften viele Fälle verjährt sein , weshalb sie Swissmedic gar nicht mehr gemeldet wurden.
Medikamente mit dem Wirkstoff Valproat sind schon über 50 Jahre auf dem Markt und seit den 70er Jahren ist bekannt, dass es schwerwiegende Schäden am ungeborenen Kind auslösen kann. Trotzdem verschrieben es Ärzten weiterhin. Heute geht man davon aus, dass etwa 10 Prozent der Kinder, die in der Schwangerschaft dem Wirkstoff ausgesetzt waren, mit Missbildungen geboren wurden. Bei etwa 30 bis 40 Prozent der betroffenen Kinder kommt es zu schweren Entwicklungsstörungen.
Als typische Fehlbildung für das sogenannte «Valproat-Syndrom» gelten Gesichtsanomalien, etwa weit auseinanderliegende Augen, eine breite Nasenwurzel und eine schmale Oberlippe. Dokumentiert sind aber auch «offener Rücken» (Spina Bifida), Missbildungen an der Wirbelsäule und an Lippen, Kiefer- oder Gaumenspalte sowie Herzfehler und urogenitale Gliedmassendefekte. Bei den Entwicklungsstörungen sind etwa kognitive und psychomotorische Beeinträchtigungen, autistische Verhaltensstörungen oder das Asperger-Syndrom dokumentiert.
In Frankreich erhielten zwischen 2007 und 2014 über 14'000 Schwangere Depakine, obwohl die schädigende Wirkung am Ungeborenen längst bekannt war. 2016 kam es zu einer strafrechtlichen Untersuchung, eine Sammelklage folgte, schliesslich wurde ein Entschädigungsfonds für Betroffene eingerichtet.
«Auch in der Schweiz braucht es einen Entschädigungsfonds», fordert Margrit Kessler, frühere Präsidentin der Stiftung für Patientenschutz. Sie begleitet bis heute Depakine-Opfer und weiss, mit welchen finanziellen Belastungen die Eltern von betroffenen Kindern konfrontiert sind.
Kessler nimmt kein Blatt vor den Mund und kritisiert Swissmedic für ihren Bericht an den Bundesrat. Er beschönige insbesondere die eigene Rolle der Heilmittelbehörde. «Swissmedic hat viel zu spät reagiert und zuwenig klar vor möglichen Missbildungen durch das Medikament gewarnt.» Sie verlangt einen unabhängigen Bericht, der auch die fragwürdige Rolle von Swissmedic beleuchte.
* Name der Redaktion bekannt
- Selbsthilfegruppe/Anlaufstelle für betroffene Familien: www.assac.ch
- Beobachter-Portal für vertrauliche Meldung über Missstände: www.sichermelden.ch
1 Kommentar
Eines der grossen Probleme im Medikamentengeschäft ist, dass nicht klar geregelt ist, WER die Verantwortung für schwere Nebenwirkungen, missachtete Kontraindikationen und Interaktionen mit anderen Medikamenten trägt. Bsp.: als ApothekerIn ist man verpflichtet, im Detail zu kontrollieren, ob ein Arzt richtig verschrieben hat. Ja man muss sogar Taxen dafür abrechnen. Obwohl der Arzt das Medikament verschrieben hat. Das ist paradox. Wenn die Zuständigkeit nicht KLAR geregelt ist, kommt es zu Abschieben der Verantwortung. Zumindest müsste eine Abgabestelle - auch Apotheke - eine Liste mit Wirkstoffen aller in der SS verbotenen Medikamente an der Kasse gross aufhängen, zumindest für ihr Personal. Stattdessen gibt es Werbesteller, etc.. Ich habe im Jahr 2000 das Pharmaziestudium beendet und damals war Valproat schon bekannt als "mit red flag" in der Schwanger-schaft. Ich empfehle daher, IMMER z.B. auf Compendium die Fachinfo selber nachzulesen. Das ist man sich schuldig. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.