Kinder behindert – wegen riskantem Mittel
Eine Schwangere nimmt das Medikament Depakine gegen Epilepsie ein. Ihr Neurologe hat dazu geraten. Nun sind ihre beiden Kinder psychisch und physisch beeinträchtigt.
Veröffentlicht am 12. September 2017 - 13:25 Uhr,
aktualisiert am 12. September 2017 - 11:14 Uhr
Wenn Eltern ihr neugeborenes Kind in den Armen halten, ist das für viele ein Moment tiefer und intimer Verbindung. Bei Gabriela O.* war es anders. Sie liebte ihr Baby, aber sie fühlte eine merkwürdige Distanz. Als ob irgendetwas zwischen ihrer Tochter und ihr wäre. Sie sah nichts von sich selber in ihrem Kind. Das Baby hatte eine schmale Oberlippe, eine breite Nasenwurzel, die Augen weit auseinander – und es reagierte nicht auf ihre Stimme und ihre Blicke.
Ein mulmiges Gefühl durchfuhr sie. «Etwas ist mit meiner Tochter nicht in Ordnung», sagte sie sich. Die Ärzte beruhigten Gabriela O. Doch das Mädchen entwickelte sich körperlich und geistig nur langsam, es krabbelte sehr spät, lief spät, konnte mit vier noch kaum sprechen.
Nach unzähligen Arztbesuchen beschied man den Eltern, ihre Tochter habe eine Entwicklungsstörung. Für den Neurologen lag die Ursache in einem genetischen Defekt. Eine Laune der Natur. Doch der Fall der kleinen Lara* ist vermutlich tragischer. Und es gibt eine erschreckende Erklärung für ihr Leiden.
Gabriela O. hat schon 16 Jahre lang das Epilepsiemedikament Depakine (Wirkstoff: Valproat) geschluckt, als sie Anfang 2006 schwanger wird. Weil sie als 18-Jährige einmal einen epileptischen Anfall hatte. Auf dem Beipackzettel liest sie, dass Neuroleptika beim ungeborenen Kind Schäden verursachen könnten. Sie spricht ihren Neurologen Walter W.* darauf an. Er beruhigt sie. Die damals 34-jährige Frau, gerade in der fünften Woche schwanger, fragt auch die Frauenärztin nach möglichen Auswirkungen des Medikaments auf den Embryo. Die kontaktiert das Informationszentrum für die Sicherheit und Risiken von Arzneimitteln während der Schwangerschaft und Stillzeit, das der Lausanner Uniklinik CHUV angegliedert ist.
Der Chefpharmakologe kommt zu einem klaren Schluss: Das Medikament kann das ungeborene Kind schädigen. Ein erhöhtes Risiko ortet er vor allem bei hohen Dosen und Kombinationstherapien. Gabriela O. nimmt damals täglich 1500 Milligramm Depakine ein, kombiniert mit 150 Milligramm Lamictal. Der Pharmakologe warnt und empfiehlt, statt zwei nur ein Medikament einzunehmen (Monotherapie), um das Risiko zu senken.
«Wie dem auch immer sei, es macht nun keinen Sinn, an der Medikation etwas zu ändern.»
Walter W.*, Neurologe
In seinem Schreiben an die Frauenärztin erwähnt der Pharmakologe auch eine Studie über mögliche Missbildungen. Die Ärztin notiert auf dem Brief der Uniklinik handschriftlich das Fazit ihrer Abklärung und faxt das Dokument an den Neurologen: «Studie: 88 Frauen, 12 Prozent Missbildungen.» Wenige Tage später schreibt der Neurologe der Frauenärztin zurück, tatsächlich könne eine Kombinationstherapie die Chance von «kleineren Missbildungen» erhöhen. Doch zugleich widerspricht er der Einschätzung des Lausanner Spezialisten: «Insgesamt erachte ich jedoch diese Möglichkeit als gering. (…) Es besteht keine Notwendigkeit, nun auf eine Monotherapie zu wechseln.» Weiter hält der Neurologe fest: «Alle Antiepileptika haben ihre teratogene Wirkung», sprich: können Fehlbildungen bewirken. Es seien aber wohl eher die epileptischen Anfälle der Schwangeren, «die wahrscheinlich wesentliche Missbildungen» am ungeborenen Kind bewirken könnten.
Darauf schluckte Gabriela O. weiterhin ihre beiden Medikamente.
Elf Jahre und unzählige Abklärungen später ist klar: Lara leidet unter einer starken Entwicklungsstörung und an Autismus. In der Regelklasse ist sie überfordert, heute besucht sie eine heilpädagogische Schule. «Meine Tochter wird wohl nie selbständig leben können», sagt die Mutter.
Gabriela O. macht sich über die Jahre immer wieder Vorwürfe. «Warum habe ich damals nicht insistiert und dem Arzt widersprochen?», fragt sie sich. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass sie sich hinterfragt. Im Dezember 2008 wird Gabriela O. wieder schwanger. Die Angst ist wieder da, denn auf ärztlichen Rat hin nimmt sie immer noch Depakine.
Am 7. Januar 2009 – sie ist in der sechsten Woche schwanger – besucht sie erneut ihren Neurologen und spricht ihn auf mögliche Risiken einer Fehlbildung durch die Medikamente an. Dieser rapportiert das Gespräch dem Hausarzt – offensichtlich ohne sich über den aktuellen Stand der Forschung zu erkundigen. Neurologe W. schreibt: «Ich habe im Kopf, dass seltene Literatur besteht», wonach bei Kindern «möglicherweise ein Entwicklungsrückstand zu beobachten sei», wenn die Mütter während der Schwangerschaft Antiepileptika einnahmen. Sein Fazit: «Eine eindeutige Literatur liegt mir nicht vor.» Er schreibt lapidar: «Wie dem auch immer sei, es macht nun keinen Sinn, an der Medikation etwas zu ändern.»
Der Neurologe mit Professorentitel hat sich getäuscht, es gab sehr wohl «eindeutige Literatur». Bereits seit den siebziger Jahren weisen diverse Studien auf das Risiko von Missbildungen hin. Dokumentiert sind vielfach Fehlentwicklungen an der Harnröhre oder Spina bifida («offener Rücken»). Später auch Entwicklungsstörungen, intellektuelle Einschränkungen und Autismus.
Die Risiken sind seit Jahrzehnten bekannt, das bestätigen mehrere Neurologen. Schon Ende der achtziger Jahre sei den Fachärzten eingebläut worden, bei geplanten Schwangerschaften die Medikation zu ändern, sagt ein Facharzt. Seit Mitte der neunziger Jahre steht auch ein Alternativmedikament zur Verfügung.
Der französische Pharmakonzern Sanofi musste die Warnhinweise über die Jahre stetig konkretisieren. Just seit Gabriela O. 2006 zum ersten Mal schwanger wurde, warnt er auf der Packungsbeilage explizit vor möglichen Schäden am ungeborenen Kind. Zwei Jahre später wurden in einer systematischen Literaturrecherche 59 Studien mit über 65 000 Schwangerschaften ausgewertet. Das Ergebnis: Bei Kindern, deren Mütter in einer Epilepsietherapie waren, kommt es etwa dreimal öfter zu Fehlbildungen als bei Kindern von Müttern ohne Antiepileptika. Wenn die Mütter in einer Kombinationstherapie mehrere Medikamente einnahmen, war die Zahl der Fehlbildungen signifikant höher.
Niemand weiss, wie viele Kinder in der Schweiz als Folge von Valproat (Depakine, Orfiril, Convulex) an Missbildungen und Entwicklungsstörungen leiden. Die Heilmittelbehörde Swissmedic spricht von weniger als 30 gemeldeten Fällen – in einem Zeitraum von 26 Jahren.
Womöglich sind es viel mehr. Denn es ist unklar, inwiefern sich Gynäkologen und Kinderärzte der Problematik bewusst sind. Fachleute unterstehen einer Meldepflicht, Patienten haben ein Melderecht.
Betroffene Familien können sich beim Verein ASSAC (Association Suisse du Syndrome de l’Anti-Convulsivant) melden oder bei der Schweizerischen Stiftung für Patientenschutz SPO.
Diese Erkenntnisse kamen bei Gabriela O.s Neurologen offensichtlich nicht an. In seinem Sprechzimmer habe es damals keinen Computer gegeben, sagt die Patientin. Einmal stand auf seinem Tisch das jährlich neu publizierte Standardnachschlagewerk «Compendium» – die Ausgabe war vier Jahre alt und somit überholt.
Professor Walter W. ist inzwischen pensioniert. Gern hätte der Beobachter erfahren, weshalb er sich nicht über den neusten Stand der Forschung informiert hatte. Doch er will sich nicht äussern.
Im Oktober 2009 folgt der nächste Schock. Gabriela O. bringt einen Knaben zur Welt, seine Harnröhre ist missgebildet (Hypospadie). Später zeigt sich, dass auch er unter Entwicklungsstörungen leidet sowie Gedächtnisprobleme und Konzentrationsschwächen hat. Er kann zwar die normale Schule besuchen. Aber: «Sein Weg wird steinig werden», sagt die Mutter.
Sie kommt ins Grübeln: «Ich habe unter der Situation mit meinen beeinträchtigten Kindern gelitten, habe mich stark zurückgezogen und bin richtiggehend sozial vereinsamt.» Der anspruchsvolle Umgang mit dem betreuungsintensiven Nachwuchs habe auch das Familienleben stark belastet. «Man hat mir immer wieder ausgeredet, dass es Risiken durch die Antiepileptika gibt», sagt Gabriela O.
Inzwischen musste der Hersteller die Warnhinweise ausweiten. 2015 veröffentlichte Sanofi «wichtige Sicherheitsinformationen» für medizinische Fachkräfte. Dort heisst es, 30 bis 40 Prozent der Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft Depakine eingenommen haben, litten unter Entwicklungsproblemen.
Zu angeborenen Missbildungen komme es bei durchschnittlich 10 Prozent der Kinder. Neben «offenem Rücken» sind Missbildungen der Wirbelsäule dokumentiert, aber auch Lippen-, Kiefer- oder Gaumenspalte, Herzfehler sowie urogenitale Gliedmassendefekte. Seit 2016 sind Ärzte sogar angehalten, ihren Depakine-Patientinnen zusätzlich eine Patientenkarte auszuhändigen, die über das Risiko informiert. Seit diesem Jahr muss auf der Verpackung ein Warnpiktogramm aufgedruckt sein.
Gabriela O. nützt das wenig, ebenso einer unbekannten Anzahl weiterer Betroffener. Einige Eltern haben sich inzwischen zu einem Verein zusammengeschlossen (siehe Box oben «Weitere Betroffene gesucht»). Sie fordern, dass auch Kinderärzte über die Problematik informiert werden. Sonst würden betroffene Kinder weiterhin falsch diagnostiziert. Gleichzeitig klagten Eltern in Genf gegen den Hersteller Sanofi und das Unispital Lausanne. Sie fordern 3,5 Millionen Franken Schadenersatz.
Ungemütlich könnte es auch für Gabriela O.s Neurologen werden. Zusammen mit der Stiftung für Patientenschutz SPO prüft die Frau juristische Schritte, bestätigt Patientenschützerin Margrit Kessler. «Dieser Fall hat eine unglaubliche Tragik. Es geht nicht an, dass medizinische Fachleute den aktuellen Kenntnisstand der Forschung ignorieren und wider besseres Wissen Patientinnen einem unzumutbaren Risiko aussetzen.»
*Name der Redaktion bekannt