Sind Pillen und Tabletten bald einzeln erhältlich?
Jedes Jahr landen Medikamente im Gesamtwert von 1 Milliarde Franken im Abfall. Das könnte sich bessern, wenn Medikamente einzeln abgezählt abgegeben würden. Aus einem unerwarteten Grund.
Veröffentlicht am 10. Dezember 2018 - 17:19 Uhr,
aktualisiert am 10. Dezember 2018 - 13:37 Uhr
Die Zahlen sind ein Schlag ins Gesicht für jeden Prämienzahler: Über 1400 Tonnen Medikamente landen in der Schweiz jedes Jahr im Abfall, vermeldete diesen November der «Blick». Der Wert dieser Medikamente beträgt rund 1 Milliarde Franken. Ein Grossteil der Medikamente wird von den Krankenkassen bezahlt.
Der Befund ist nicht neu. Bereits im Jahr 2000 schätzte der Krankenkassenverband Santésuisse, dass jährlich hunderte Tonnen Medikamente im Müll landen und Millionen Franken in Rauch aufgehen. Seither geht der Streit, wer Schuld daran trägt und wie eine Besserung eintreten könnte.
Immer wieder ein Thema ist die Grösse der Medikamentenpackungen. Patientenorganisationen monieren, dass sie zu gross sind. «Verträgt jemand ein Medikament nicht oder benötigt er nicht die ganze Schachtel, landet der Rest im Müll», sagt Erika Ziltener von den Schweizerischen Patientenstellen.
Die Medikamentenhersteller halten dagegen. Das Gesetz schreibe vor, dass die Packungsgrössen der Therapiedauer entsprechen müssten. «Die Hauptursache dafür, dass Medikamente weggeworfen werden, liegt in der fehlenden Therapietreue », schreibt Interpharma, der Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz.
Glaubt man den Angaben der Krankenkassen, halten sich tatsächlich gerade jene Patienten oft nicht an die Vorgaben des Arztes, die sehr viele Medikamente brauchen. Der Branchenverband Santésuisse schätzt, dass rund 40 Prozent aller chronisch Kranken ihre Medikamente nicht wie verordnet einnehmen. Das seien in der Schweiz rund 880'000 Menschen. Sie werfen die Medikamente in den Abfall oder lassen sie so lange im Schrank liegen, bis das Verfallsdatum überschritten
ist.
«Die Einzelabgabe erhöht das Vertrauen der Patienten in die Therapie.»
Erika Ziltener, Schweizerische Patientenstellen
Der Bundesrat folgte lange der Argumentation der Pharmaindustrie
. Forderungen nach kleineren Packungen oder einer Einzelabgabe von Medikamenten lehnte er ab. Erst vor einem Jahr haben Erfahrungen in Frankreich zu einem Umdenken geführt. Dort führte man einen Versuch mit der Einzel-Abgabe von
Antibiotika durch. Ein Arzt verschrieb einem Patienten zum Beispiel 13 Tabletten. Der Apotheker händigte ihm dann exakt 13 Tabletten aus, nicht eine 20er-Packung. Nicht nur ging die Zahl abgegebener Tabletten dadurch um 10 Prozent zurück. Unerwartet stieg vor allem die Therapietreue deutlich an: Während in der Kontrollgruppe nur zwei Drittel der Patienten die ganze verschriebene Dosis einnahmen, waren es bei der Einzelabgabe über 90 Prozent.
Der Bund will nun selbst eine Pilotstudie durchführen, bei der Ärzte und Apotheker Antibiotika einzeln abgezählt abgeben. Man werde prüfen, wie sich das auf Sicherheit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit auswirkt, sagt Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit. «Ob der Versuch später auch auf Medikamente generell ausgebaut wird, hängt von den Ergebnissen ab.»
Erika Ziltener von der Patientenstelle fordert, dass Medikamente künftig vermehrt abgezählt abgegeben werden. «Das erhöht das Vertrauen der Patienten in eine Therapie.» Der Pharmaverband Interpharma hingegen lehnt eine Ausweitung der Einzelabgabe ab. «Es entstünden zahlreiche Probleme», sagt Sprecherin Sara Käch. Zum Beispiel würden die Patienten die Medikamente leicht verwechseln, wenn die Tabletten nicht mehr in der Originalverpackung gelagert werden. Auch könne man nicht mehr exakt rückverfolgen, welche Pille oder welches Zäpfchen zu welchem Patienten gegangen ist, wenn die Schachtel nicht mitgeht.
«Das Problem haben die Patienten – und die Prämienzahler.»
Erika Ziltener, Schweizerische Patientenstellen
Derartige Bedenken gibt es auch bei den Ärzten und Apothekern. Dennoch stehen sie der Einzelabgabe eher positiv gegenüber. «Mich ärgert es, wenn es keine passenden Packungen gibt», sagt Eva Kaiser vom Verband mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz. Medikamente auszuzählen und neu abzupacken bedeute aber einen enormen Mehraufwand. «Das würde die Medikamentenabgabe verteuern.» Tom Glanzmann vom Apotheker-Verband Pharmasuisse sagt: «Wir sind dem Pilotversuch gegenüber offen und gespannt auf die Ergebnisse.» Die Krankenkassen erhoffen sich durch die Einzelabgabe Einsparungen. «Vor allem bei teuren Medikamenten
könnte sie Sinn machen», sagt Matthias Müller vom Santésuisse.
Alle Akteure sind sich einig, dass die Grösse der Packungen allein nicht darüber entscheidet, wie viele Medikamente im Müll landen. «Die Betreuung durch den Arzt und den Apotheker ist das Wichtigste», sagen Patientenvertreterin Ziltener und Interpharma-Sprecherin Käch unisono. Weiss der Patient, warum er ein Medikament nehmen muss, wie lange es dauert, bis es wirkt und welche Nebenwirkungen dabei auftreten können? Wendet er sich vertrauensvoll an den Arzt, wenn er eine Therapie absetzen will? Fragt er beim Apotheker nach, ob es ein Medikament statt in Zäpfchen- auch in Tablettenform gibt?
Es gebe viele Gründe dafür, dass Medikamente im Abfall landen , sagt Erika Ziltener. Wirklich einen Nachteil entstehe dadurch aber weder für Ärzte noch Apotheker noch Pharmafirmen. Und auch für die Krankenkassen nur bedingt. «Das Problem haben die Patienten – und natürlich die Prämienzahler.»
4 Kommentare
In Neuseeland ist das schon seit vielen Jahren so, dass einzelne Tabletten abgegeben werden und dies mit Erfolg. Als ich dort lebte konnte ich mir z. B. nur 1 Tablette für Migräneanfälle verschreiben lassen. Die Pharmaindustrie in der CH wehrt sich mit Händen und Füssen dagegen. Die Begründung, dass die Patienten ohne Originalpackung die Medis verwechseln könnten ist schlicht ein Witz. Die Medikamente in Neuseeland werden in kleinen Dosen verpackt und säuberlich angeschrieben.
Ich hoffe, dass dies endlich bald zur Wirklichkeit wird und wir somit Milliarden im Gesundheitswesen sparen können.
Frankreich als Vorbild? In Frankreich wartet man mal ein halbes Jahr bevor man einen Artztermin bekommt! Das kann bei einem Melanom oder Pankreaskrebs schon mal zu spät sein! Und von so einem maroden System wollen wir etwas lernen? Ein Banker nimmt sich einen Obdachlosen zum Vorbild um effizienter im Bankenwesen zu werden? Wie absurd ist das?