Als die Gärtner das Buschwerk an der Spitalfassade rodeten, machte der junge Stationsarzt Hans Wedler einen beeindruckenden Fund: Der Boden unter den Fenstern der Bettenstation war mit Pillen , Tabletten und Dragées übersät. Die Patienten hatten die verordneten Medikamente entsorgt statt geschluckt. Das war in den siebziger Jahren; heute weiss Hans Wedler, langjähriger ärztlicher Direktor des Bürgerhospitals Stuttgart: «Ärzte dürfen nicht davon ausgehen, dass eine verordnete Therapie eingehalten wird.»

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Auch heute schlucken etliche seiner Patienten ihre Pillen nicht, einige verweigern diagnostische Massnahmen oder verlassen das Spital entgegen dem ärztlichen Rat. Doch heute, so findet der ehemalige Klinikleiter, sollen Ärzte eher fragen, ob die Patienten eine Therapie wirklich wünschen und ob sie diese auch durchhalten können.

Wer mehr als drei Medikamente pro Tag verordnet bekomme, halte sich praktisch nie an die Empfehlungen, weiss Hans Wedler aus Erfahrung. «So wenig wie möglich verordnen», lautet deshalb seine Devise. «Ein wesentlicher Teil meiner Visiten bestand darin, die Medikamentenlisten zu kürzen.» Man müsse «kein Zyniker sein, um zu fragen, ob es in Einzelfällen auch heilsam sein kann, wenn Patienten eine Tabletteneinnahme vergessen oder vermeiden».

Vor allem chronisch Kranke sind Tablettenmuffel

Eine gute Zusammenarbeit von Arzt und Patient Medikamente Schlendrian ist das falsche Rezept ist Grundvoraussetzung jeder medizinischen Behandlung; das hat die Ärzteschaft bereits vor über 30 Jahren erkannt. Damals wurde der Fachbegriff «Compliance» geprägt. Er meint die Bereitschaft der Patienten, den Empfehlungen eines Arztes oder einer Ärztin zu folgen und bei Diagnose und Therapie mitzuwirken.

Studien zur Compliance bei der Medikamententherapie zeigen: Nur gerade ein Drittel der Betroffenen macht, was der Doktor sagt. Ebenso viele nehmen es mit seinen Empfehlungen nicht besonders genau, und ein letztes Drittel missachtet den ärztlichen Rat schlicht und einfach. Mangelhafte Compliance ist in der Arztpraxis ebenso alltäglich wie im Spital.

Besonders gross ist die Therapiemüdigkeit bei chronisch Kranken sowie bei Menschen, die täglich ein halbes oder gar ein Dutzend Tabletten schlucken müssen (zum Beispiel Aidspatienten). Hier zeigen Studien, dass nach fünf Jahren weniger als die Hälfte der Patienten die Medikamente wie verordnet einnimmt. Gerade bei Erkrankungen, deren Folgeerscheinungen für den Patienten lange nicht spürbar sind, lässt die Disziplin nach.

Therapieverweigerung hat weitreichende Folgen

«Meistens vergessen die Leute, ihre Medikamente zu nehmen, oder sie ändern die Dosierung nach eigenem Gutdünken», sagt Isabelle Arnet Lehrbeauftragte Pharmazie an der Universität Basel. «Viele legen ein paar Tage ‹Therapieurlaub› ein oder entsorgen die erhaltenen Tabletten direkt nach der Abgabe. Andere beginnen erst kurz vor dem nächsten Arzttermin mit der Einnahme.» Die Dachorganisation der Krankenversicherer, Santésuisse, schätzt, dass jedes Jahr Medikamente für 500 Millionen Franken im Müll landen.

Therapieverweigerung kostet die Gesellschaft aber noch weit mehr: Nicht geschluckte Pillen führen zu Dosissteigerungen, können Therapiewechsel nötig machen und zusätzliche Spitaltage verursachen. Ausserdem begünstigen Antibiotikabehandlungen, die in zu niedriger Dosierung eingenommen werden, Resistenzen der Krankheitserreger Bakterien Wenn Antibiotika nicht mehr wirken .

Patienten verweigern Therapie aus Angst oder Vergesslichkeit

Aber nicht allein das Pillenschlucken geht manchem Kranken gegen den Strich: Spitalpatienten verweigern zum Teil auch diagnostische Massnahmen wie Blutentnahme, Linksherzkatheter oder Darmspiegelung. Und immer wieder verlassen Patienten das Spital ohne ärztlichen Segen.

Zum Beispiel Lukas P., ein 37-jähriger Landschaftsgärtner, der mit einer Nierenkolik ins Basler Kantonsspital kam. Noch bevor die Diagnostik abgeschlossen war, packte er panikartig seine Sachen. «Ich habe mich Tag für Tag kränker gefühlt, die ganze Stimmung im Spital hat mich derart deprimiert, dass ich nur raus wollte.»

Ursachen für den «Ungehorsam» der Patientinnen und Patienten gibt es viele. Einige sind gar nicht in der Lage, einen mit dem Arzt ausgehandelten Behandlungsplan durchzuhalten: Ältere Menschen zum Beispiel sind vergesslich, Handicapierte haben Schwierigkeiten, einen kindersicheren Schraubverschluss zu öffnen. Die meisten Betroffenen befürchten Nebenwirkungen von Medikamenten, sie scheuen die Risiken von Operationen oder von Diagnostik, die einen kleinen Eingriff erfordert.

Man kann niemanden zur Compliance verdonnern

Compliance lässt sich nicht verordnen, darin sind sich die Fachleute einig. Vielmehr ist sie das Resultat einer intensiven Auseinandersetzung mit den persönlichen Bedürfnissen der Kranken und den vom Arzt vermittelten Fakten. Therapieverweigerung – früher als Fehlverhalten des Patienten oder der Patientin aufgefasst – wird heute mehr und mehr dem Unvermögen vieler Ärzte zugeschrieben, mit ihrer Kundschaft einfühlsam und verständlich zu kommunizieren.

«Die meisten Ärzte erklären zwar den Patienten, wieso sie eine bestimmte Therapie empfehlen, unterlassen es aber, auf die Konsequenzen hinzuweisen, wenn man das betreffende Medikament nicht einnimmt», kritisiert Margrit Kessler, ehemalige Präsidentin der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO). Die Mediziner sollten sich immer daran erinnern, dass rund die Hälfte ihrer verbalen Informationen bei den Kunden zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgehe, mahnt die Pharmazeutin Isabelle Arnet.

Eine gute Beratung braucht Zeit

Doch gute und umfassende Beratung Patientenaufklärung Was soll das heissen, Herr Doktor? braucht Zeit. Und mit dem hastigen Abspulen von wissenschaftlichen Argumenten und standardisierten Empfehlungen ist es nicht getan. «Die Befindlichkeitsstörung eines Menschen in eine schulmedizinisch sinnvolle Schublade einzuordnen ist komplex», sagt Felix Huber, leitender Arzt im MediX-Ärzteverbund.

Die Patientin oder der Patient müssten mit dem behandelnden Arzt gemeinsam zu einer diagnostischen Einschätzung und zu einem Therapieziel kommen. Bluthochdruck Bluthochdruck Lautlose Gefahr zum Beispiel bedeute für jeden Menschen etwas anderes: «Der eine sieht sich hirnschlaggefährdet, ein anderer denkt an seinen Grossvater, der trotz hohem Blutdruck 95 Jahre alt geworden ist.» Eine zentrale Aufgabe des Gesprächs müsse es deshalb sein, «die Krankheitsbilder von Arzt und Patient abzugleichen».

Arzt und Patient reden zu wenig

Persönliche Überzeugungen wie «Medikamente nehme ich nur, wenn ich krank bin, nicht wenn ich mich gesund fühle» oder «Der Körper muss sich einmal von den Medikamenten erholen» wirken sich stark auf die Compliance aus: Das hat Isabelle Arnet in über hundert Gesprächen herausgefunden, die sie im Basler Kantonsspital mit Patientinnen und Patienten geführt hat.

«Solche Ansichten, Ängste und Erwartungen können allerdings erst in einer harmonischen und gleichberechtigten Arzt-Patient-Beziehung ans Licht kommen.» Ein weiteres Resultat der Interviews besteht in der Erkenntnis: Wer gut über seine Krankheit informiert ist, wer die verordneten Medikamente mit Namen und ihre Wirkungsmechanismen kennt, ist zuverlässiger in der Therapie.

«Beim Arzt sind 90 Prozent der Leute so schlecht informiert, dass man nicht von Selbstverantwortung reden kann.»

Felix Huber, Allgemeinmediziner

 

Hier allerdings liegt einiges im Argen: «Noch immer krankt manches Gespräch in der Arztpraxis daran, dass der Mediziner zu wenig erklärt und der Patient zu wenig hinterfragt», sagt MediX-Arzt Felix Huber. «Ein moderner Kunde informiert sich, bevor er sich entscheidet. Doch beim Arzt sind 90 Prozent der Leute derart mangelhaft informiert, dass man nicht von Mitentscheiden oder Selbstverantwortung reden kann.»

Mündige Patienten, die sich bewusst für eine Erfolg versprechende Behandlung entscheiden, fördert man beim MediX-Ärzteverbund mit gezielter Schulung. Herzkranke zum Beispiel erhalten eine Ernährungsberatung Abnehmen Wie man wirklich Gewicht verliert , werden dazu angeleitet, sich gesundheitswirksam zu bewegen, bekommen Information zu Krankheit und Medikamenten und lernen, sich selbst zu beobachten und auf Warnsymptome zu achten.

Huber ist sich bewusst, dass selbstverantwortliches Handeln auch Grenzen hat: «Wer kann schon Diät halten, Sport treiben und mit Rauchen oder Trinken aufhören, ganz wie der Arzt das wünscht?» Doch mit dem Arzt darüber reden und sein eigenes Tun und Lassen reflektieren, das könne jeder und jede. Und das sei oft der entscheidende Schritt, um den Lebensstil nachhaltig zu ändern.

Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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