Wenn mit dem Herzen etwas nicht zu stimmen scheint, schauen die Ärzte kurzerhand hinein: Mit der sogenannten Koronarangiografie lassen sich Verengungen der Herzkranzgefässe zweifelsfrei sichtbar machen. Falls sie es für nötig halten, behandeln die Spezialisten die Verengungen gleichzeitig – mit Ballonkatheter und Stent, einem kleinen Metallgitterröhrchen. Etwa 47 000-mal pro Jahr wird dieser Eingriff in der Schweiz durchgeführt, Tendenz steigend.

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Keiner bezweifelt, dass der Herzkatheter bei Infarkten Leben rettet und vielen Patienten das Dasein nachhaltig verbessern kann. Dennoch sind die Operationen oft überflüssig. Das legt eine aktuelle Studie des Instituts für Hausarztmedizin in Zürich und des Krankenversicherers Helsana nahe: Obwohl kein begründeter Verdacht auf eine Herzkranzerkrankung vorliegt, schickt man viele Patienten ins Herzlabor. Dort gehts richtig ins Geld: Die Untersuchung des Herzens schlägt mit 6500 bis 8000 Franken zu Buche.

Herzkatheter-Untersuchung als Paradebeispiel für Überversorgung

Dabei liessen sich unauffällige Befunde in der Vordiagnostik etwa mit Belastungs-EKG auf dem Fahrradergometer oder Herz-Computertomografie zuverlässig herausfiltern. Beide Methoden kommen ohne Eingriff in den Körper aus und kosten einen Bruchteil der Koronarangiografie. Fast 40 Prozent der Patienten werden ohne Voruntersuchung ins Herzkatheterlabor geschickt. «Die Koronarangiografie ist ein Paradebeispiel für Überversorgung», kommentiert Oliver Reich, Mitautor der Studie und Leiter Gesundheitswissenschaften bei der Helsana.

Der Griff zum Katheter ist lukrativ, die Herzgefässbehandlungen sind für die Spitäler eine Goldgrube. Zum Beispiel für die Solothurner Spitäler AG, die dank dem 2012 eröffneten Herzkatheterlabor wieder schwarze Zahlen schreibt. Innert zweier Jahre hatte Solothurn mit seinen Stent-Eingriffen beinahe das Unispital Genf eingeholt, wobei die Zahl der Eingriffe in den umliegenden Spitälern – etwa im 30 Autominuten entfernten Inselspital Bern – nicht zurückgingen. Die Solothurner Spitäler AG verteidigt die Einführung ihres Herzkatheterlabors als «Angebot einer erweiterten Grundversorgung», wie es sich in Freiburg, Biel, Sitten, Liestal oder Frauenfeld bereits bewährt habe.

So viele MRI-Scanner wie nie zuvor

Inzwischen wird die Sache selbst den Herzspezialisten zu viel. «Es gibt in der Schweiz ein Überangebot an Herzkatheterlaboren mit teilweise niedrigen Fallzahlen. Ausserdem wird der Eingriff nicht überall nach den gleichen Kriterien angeordnet», kritisiert Stephan Windecker, Chefarzt für Kardiologie am Inselspital Bern.

Noch weiter geht Urs Kaufmann, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie: Der Verdacht bestehe, dass in manchen Spitälern betriebswirtschaftliche Überlegungen oder Anreize gegenüber medizinischen Kriterien eine übergeordnete Rolle spielten, sagte Kaufmann der «Sonntags-Zeitung».

Der gleiche Mechanismus spielt in der Radiologie, konkret bei den MRI-Untersuchen, wo die Spitäler ebenfalls schwer aufrüsteten: Von 2010 bis 2013 wuchs der Gerätepark von 141 auf 162 Scanner an, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen. «Mit den attraktiv tarifierten MRI-Untersuchungen bolzen die Spitäler Umsatz», sagt Guido Klaus, Gesundheitsökonom bei Helsana. Einen grossen Teil der MRI-Untersuchungen haben die Spitäler in den ambulanten Bereich verlagert, wo die Kosten voll vom Prämienzahler gedeckt werden.

Was sind die Gründe dieser Entwicklung? Natürlich liegt es in der Natur des medizinischen Fortschritts, dass Behandlungen stets raffinierter werden und dadurch die Kosten steigen. Auch die demografische Entwicklung trägt ihren Teil bei: Wir werden älter und nehmen ärztliche Leistungen länger und öfter in Anspruch.

Fehlanreize in der Spitalfinanzierung

Angetrieben aber wird die Überversorgung auch durch Fehlanreize im gesundheitspolitischen System – insbesondere durch die neue Spitalfinanzierung, die 2012 mit der KVG-Revision eingeführt wurde. Das neue System mit Fallpauschalen («Swiss DRG») sollte den Spitälern – egal, ob privat oder öffentlich – gleich lange Spiesse bescheren und den kantonsübergreifenden Wettbewerb ankurbeln.

Passiert ist das Gegenteil: «Was wir sehen, sind Abschottungstendenzen und verdeckte Subventionitis bei den Kantonen», stellt der Zürcher Gesundheitsökonom Willy Oggier ernüchtert im Interview fest.

So unterlaufen manche Kantone den Wettbewerb, indem sie ihre Spitäler mit öffentlichen Geldern hochrüsten. Das Kantonsspital Winterthur etwa wird bis 2020 einen Neubau für rund 350 Millionen Franken erhalten – das beschloss der Zürcher Kantonsrat Anfang März ohne jede Gegenstimme. Der Kanton St. Gallen will über 900 Millionen in seine Kliniken investieren, Uri zirka 100 Millionen in einen Um- und Neubau des Kantonsspitals, und Solothurn lässt seine Steuerzahler den Neubau des Bürgerspitals – wo 2012 das erwähnte Herzkatheterlabor eingerichtet wurde – 340 Millionen Franken kosten.

Viel Technik für viele leere Betten

«Wenn es um die Versorgung mit genügend Spitalbetten, adäquatem Hotelkomfort und attraktiven Operationssälen geht, ist der Griff in die Staatsschatulle schnell und widerstandslos getan», konstatiert der Berner Medizinjournalist Urs Zurlinden.

Das Resultat: Zu viele Spitäler bieten ein Vollangebot. Statt die Kompetenzen auf bestimmte Krankenhäuser zu konzentrieren und regional aufeinander abzustimmen, setzen alle auf die «erweiterte Grundversorgung» – und produzieren leere Spitalbetten.

Die Daten des Bundesamts für Gesundheit zeigen, dass die 171 Schweizer Akutspitäler im Schnitt nur zu 79,6 Prozent ausgelastet sind. Bei den Regionalspitälern kämpfte 2012, als die Daten erhoben wurden, gar jedes dritte mit einer Auslastung von weniger als 70 Prozent, während die Betten im Zürcher Unispital immerhin zu 92,5 Prozent belegt waren. Das brachte den Krankenkassenverband Santésuisse zur Vermutung, «dass Überangebote bestehen und damit die Schweizer Spitallandschaft nicht effektiv organisiert ist». Das Nachsehen haben die Patienten: Das Überangebot führt zur Überbehandlung. Die Frage, ob ein Eingriff wirklich nötig ist, wird zweitrangig.

Man soll Eingriffe «klug wählen»

Dagegen regt sich ausgerechnet in der Ärzteschaft selber Widerstand. Unter den Mottos «Choosing wisely» (Klug wählen) und «Smarter Medicine» sprechen sich Mediziner dafür aus, auf unnötige Behandlungen zu verzichten. In den USA, wo «Choosing wisely» herstammt, schlossen sich Fachärzte der Kampagne an und machten Top-5-Listen jener operativen Eingriffe publik, die vermieden werden sollten.

Auch Schweizer Ärzte unterstützen «Klug wählen», offiziell erst die Fachgesellschaft für Innere Medizin. Ihre Top-5-Liste enthält die Empfehlung, nicht vorschnell Röntgenbilder anzufertigen, wenn Patienten über Rückenschmerzen klagen; sie empfehlen weiter, bei einfachen Infektionen der oberen Atemwege keine Antibiotika zu verschreiben oder auf routinemässige Tests zwecks Screening von Prostatakrebs zu verzichten. Es sind vorerst bescheidene Massnahmen, die die Mediziner sich auferlegt haben. Doch sie tun es aus der Überzeugung, dass nur die Ärzte selber den Trend zur Überversorgung stoppen können. Nicht die Politiker.

Interview mit Gesundheitsökonom Willy Oggier: «Die Kantone sollten nicht selbst Spitäler führen»

Der Gesundheitsökonom Willy Oggier aus Küsnacht ZH gilt als profunder Kenner des schweizerischen und des internationalen Gesundheitsmarkts.

Quelle: Thinkstock Kollektion

Beobachter: Man hört, die neue Spitalfinanzierung via Fallpauschalen habe zu überflüssigen medizinischen Angeboten und Behandlungen geführt. Teilen Sie diese Ansicht?
Willy Oggier: Die neue Spitalfinanzierung hat tatsächlich fragwürdige Blüten getrieben. Das Problem sind aber nicht die Fallpauschalen – die können bestens funktionieren, wie Beispiele aus anderen Ländern zeigen –, sondern die föderalen Rahmenbedingungen: Viele Kantone machen ihre Hausaufgaben nicht.

Beobachter: Was heisst das?
Oggier: Die Kantone sind gemäss Krankenversicherungsgesetz für die Gesundheitsversorgung zuständig. Dabei müssen sie Qualität und Wirtschaftlichkeit sichern. Doch das tun sie nicht: Sie verfolgen eigene Interessen und fördern damit Überversorgung.

Beobachter: Man hoffte, die neue Finanzierung würde den Wettbewerb fördern und die Qualität heben.
Oggier: Der Wettbewerb spielt überhaupt nicht. Was wir sehen, sind Abschottungstendenzen und verdeckte Subventionitis über sogenannte gemeinwirtschaftliche Leistungen, etwa indem Spitalkapazitäten aus «regionalpolitischen» Gründen aufrechterhalten werden.

Beobachter: Was behindert den Wettbewerb?
Oggier: Der Hauptgrund ist der Rollenkonflikt, in dem die Kantone vielerorts gleich mehrfach drinstecken. Sie planen und regulieren die Gesundheitsversorgung, sie bezahlen Leistungen nach Tarifen, die sie selber festgelegt oder zumindest beeinflusst haben, sie sind Spitalbetreiber und Aufsichtsbehörde in einem. Das kann nicht gutgehen.

Beobachter: Was sollte getan werden?
Oggier: Die Eintrittshürden für den Marktzugang müssen viel höher sein. Hier sollte der Bund eingreifen – das kann er dem Krankenversicherungsgesetz nach auch tun: Er sollte den Leistungskatalog der Spitäler schweizweit an bestimmte Mindestfallzahlen knüpfen. Das dürfte nicht nur den kantonsübergreifenden Wettbewerb unter den Spitälern fördern, sondern auch die Qualität. Es ist eine Kombination zwischen freiem Markt und staatlicher Regulierung, wie sie übrigens der Kanton Zürich unter Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger vorbildlich praktiziert. Die Zürcher Spitäler dürfen bestimmte Operationen nur anbieten, wenn sie genügend oft durchgeführt werden.

Beobachter: Derzeit sind im Parlament Vorstösse hängig, um die Kompetenzen der Kantone bei der Planung von Spitälern zu beschneiden: Sie sollen von ihrer Rolle bei der Fixierung der Tarife entbunden werden und keine Spitäler mehr betreiben. Ist das sinnvoll?
Oggier: Beim ersten Teil der Forderung bin ich skeptisch. Wenn es bei den Tarifen keine Einigung gibt, besteht die Gefahr, dass der Patient nicht zu seiner Behandlung kommt – und das darf nicht sein. Hier braucht es eine hoheitliche Instanz, die einen Zwischenentscheid fällt. Das können unmöglich die Kassen oder die Spitäler selbst sein. Die Kantone sollten aber nicht selber Betriebe führen. Modellhaft ist auch auf diesem Gebiet der Kanton Zürich, der die Entkantonalisierung von Spitälern konsequent vorantreibt.