Verständnis statt Drogen
Narcotics Anonymous, die Selbsthilfeorganisation für Suchtkranke, boomt im Versteckten. Doch Ärztinnen kritisieren sie.
Veröffentlicht am 6. Juni 2019 - 17:49 Uhr
«Ich bin Thomi, und ich bin süchtig.» So melden sich in der Schweiz wöchentlich Hunderte zu Wort. Sie sind Mitglieder einer der grössten Selbsthilfeorganisationen des Landes, Narcotics Anonymous (NA). Die Meetings ziehen zwar immer mehr Süchtige an, der Schweizer Ableger der internationalen Organisation ist aber nahezu unbekannt. «Weil wir keinen Chef haben und keine Subventionen wollen, fliegen wir unter dem Radar der Drogenpolitik», sagt ein Vertreter.
Jede Woche finden mehr als 60 Treffen der Anonymen Drogenkonsumenten statt. In Windisch und Liestal, in Sierre und Yverdon, in Basel und Bellinzona. Suchtkranke erzählen da anderen Suchtkranken von ihrem Kampf gegen die Drogensucht , ähnlich wie bei den Anonymen Alkoholikern.
«Narcotics Anonymous hat mir den Arsch gerettet», sagt Thomi*. «Nur dank der NA-Gemeinschaft bin ich dauerhaft clean geworden», erzählt er den neun Frauen und den zehn Männern, die mit ihm im Kreis sitzen. Es ist Dienstagmittag in der Zürcher Innenstadt, die Gruppe trifft sich hinter zugezogenen Vorhängen. Anonymität ist wichtig. Die meisten kennen sich nur beim Vornamen.
Das Mittagsmeeting ist Thomis erste NA-Veranstaltung der Woche. 2002 hat er letztmals Drogen genommen, seither besucht er jede Woche rund drei Treffen. «Um clean zu bleiben, brauche ich diese Meetings. Wenn ich ein Glas Alkohol trinken würde, endete die Nacht mit einer Spritze im Arm. Ich habe es mehrfach erlebt. Das Monster ist sofort wieder da. Auch nach 17 Jahren Abstinenz bin ich rückfallgefährdet.»
«Ich brauche die Meetings, um clean zu bleiben. Wenn ich trinken würde, endete die Nacht mit einer Spritze im Arm.»
Neun von zehn Drogenkonsumenten werden zwar nicht abhängig, zeigt der Uno-Weltdrogenreport. Doch für jene, die es trifft, kann es lebensgefährlich werden. Thomi, 52, hat 22 Jahre Drogensucht überlebt. Begonnen hat er als 13-Jähriger mit Alkohol. Als Teenie vertickte er selbst angebautes Gras auf dem Zürcher Platzspitz und kaufte sich dafür Kokain und LSD. Nach dem Lehrabschluss besorgte er sich am Letten Heroin. «Ich schaute auf die Drögeler dort herab. Ich hatte ja eine Wohnung und einen Job. Und ich rauchte das Heroin nur ab Folie. Weil ich nicht spritzte, war ich nicht richtig süchtig. Dachte ich.» Nach einem Umzug ins Zürcher Oberland setzte er sich dann doch den ersten Schuss. Er klaute, musste ins Gefängnis. «Die NA-Leute waren die Ersten, die mich akzeptiert haben. Trotz meiner vielen Rückfälle. Sie sind wie eine zweite Familie für mich.»
Die Leiterin des Mittagsmeetings, die Chairwoman, räuspert sich: «Wir verbringen einen Moment der Stille für die noch leidenden Süchtigen und für jene, die heute an ihrer Sucht gestorben sind. Um uns daran zu erinnern, woher wir kommen.» Die Runde schweigt. Einzelne schliessen die Augen, andere lächeln. Schalk blitzt auf. Und Verzweiflung.
Wer will, darf drei Minuten lang erzählen. Für zwei Teilnehmende ist es das erste Meeting nach einem Rückfall. Sie werden umarmt. Dass sie gekommen sind, ist das Einzige, was zählt. Erzählt werden Geschichten über Drogenverzicht, die neue Ausbildung, das Ende einer Beziehung. Oder selbstironische Witze, die alle zum Lachen bringen. Die offene Art schafft Vertrauen. Niemand wirft anderen etwas vor, niemand erteilt Ratschläge. Am Ende des Treffens stehen alle auf, legen sich die Hände über die Schultern und sprechen im Kreis das Gelassenheitsgebet: «Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, und den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann …» Es ist der spirituelle Kern der NA-Versammlung. Gott steht bei NA aber nur für eine spirituelle Kraft. «Ich bin aus der Kirche ausgetreten, aber ich meditiere und glaube an eine höhere Macht», sagt Thomi.
Die ersten 90 Tage nach dem Entzug besuchte er jeden Tag ein Meeting. «Ohne das hätte ich den Ausstieg nicht geschafft», sagt er. «Bei NA lernte ich: Ich bin nicht falsch. Ich konnte mich und meine Fehler annehmen. Dieses Zugehörigkeitsgefühl kann dir niemand sonst geben.»
Thomi führt heute ein Leben gegen jede Wahrscheinlichkeit. Der Ex-Junkie lebt abstinent und nimmt keinen Drogenersatz wie Methadon . Er arbeitet als Betreuer und Hauswart in einer Klinik für Suchtkranke, ist seit elf Jahren mit seiner Partnerin zusammen und betreibt Karate. «Ich war ein hoffnungsloser Fall», erzählt er. Sieben Jahre lang habe er versucht, clean zu werden, machte mehr als 20 Entzüge. Zu Hause, in Kliniken, im Ausland. Nichts half. «Der körperliche Entzug war nicht schlimm. Aber die Emotionen, die kommen, wenn man clean ist. Ich realisierte, was ich meinen Eltern antat. Dass ich alle hinterging. Dass ich keine Freundschaften mehr pflegen konnte und die Sucht mich bestimmte.»
Irgendwann war Schluss. «Ich traf die Venen nicht mehr, weil ich Wasser in Beinen und Armen hatte. Ich wusste, dass ich sterbe, wenn ich nichts ändere.» Also ging Thomi während eines Methadonprogramms erstmals an ein NA-Meeting. «Ein Jahr lang war der Suchtdruck riesig. Mehrmals wäre ich fast rückfällig geworden. Wenn ich am Platzspitz vorbeiging, hatte ich sofort riesigen Suchtdruck.» Dann rief er ein NA-Mitglied an, oft seinen «Sponsor». Das ist die Vertrauensperson, die jedes NA-Mitglied wählt.
Sein neues, drogenfreies Leben feiert Thomi immer am 17. März. Es ist sein Clean-Geburtstag. «Ich feiere ihn mehr als meinen richtigen Geburtstag.» Thomi bringt dann jeweils Rüeblikuchen und Gäste ins Meeting mit, zuletzt kam seine älteste Schwester. «Sie gratulierte mir und sagte: ‹Heute vor 17 Jahren habe ich meinen Bruder zurückerhalten.› Das hat mich sehr berührt.»
Einfach ist das cleane Leben nicht: «Selten sagt mir der Affe auf der Schulter: Komm, nur ein Bier. Aber dank den Meetings höre ich nicht mehr auf ihn. Sie sind wie Psychohygiene. Ich sage, was mein Problem ist. Ich höre Leuten zu, die einen Rückfall hatten. Das macht mich demütig. Ich bin ein Meister darin, mir etwas vorzumachen. Die Meetings holen mich wieder runter.»
Einzige Voraussetzung, an einem NA-Meeting teilzunehmen, ist das Verlangen, mit Drogen aufzuhören. Alkohol ist mitgemeint. NA-Mitglieder erwarten nicht, dass Ärzte oder Psychologen ihre Probleme lösen können. Sie ermöglichen ihre eigene Genesung, indem sie sich eingestehen, dass sie eine Suchterkrankung haben.
Gemäss NA-Theorie führt – wie bei den Anonymen Alkoholikern – ein zwölfstufiges Programm zum Ziel. Es geht darum, Hilfe zu akzeptieren, zu meditieren, oder darum, sich bei jenen zu entschuldigen, die man getäuscht hat. Jedes Mitglied soll dieses Programm durcharbeiten. Immer wieder. Denn geheilt werde ein Suchtkranker nie, besagt die NA-Literatur. Suchtkranke seien lebenslang in Genesung.
Eine Ansicht, die viele Suchtforschende teilen. «Substanzstörungen sind chronische Krankheiten. Selbst wenn man clean ist, geht die psychische Abhängigkeit weiter. Die Krankheit ist nicht heilbar, aber bewältigbar», sagt Oberärztin Margit Proescholdt von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Sie empfiehlt Patientinnen und Patienten, nach dem körperlichen Entzug eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Welche, sei nicht entscheidend. Der spirituelle Ansatz der NA sei nicht jederfraus Sache. «Kann ich an eine höhere Macht glauben, die mir hilft, das Verlangen nach Drogen zu überwinden?» Wenn jemand seine Spiritualität für sich nutzen könne, sei das aber gut.
«Ich traf die Venen nicht mehr, wusste, dass ich sterbe, wenn ich so weitermache.»
«Durch die Unterstützung in der Gruppe entsteht Motivation, clean zu bleiben», erklärt Proescholdt. «Betroffene sind Experten ihrer Erkrankung. Patienten glauben Patienten eher, weil sie ihr Rezept selber ausprobiert haben. Sie leben vor, dass es funktioniert», sagt die Leiterin des Zentrums für Abhängigkeitserkrankungen.
Es gibt aber auch Kritik. «Die NA schliesst durch ihren Ansatz der absoluten Abstinenz Leute aus, die sich für den Weg des kontrollierten Konsums entschieden haben. Oder etwa für ein Methadonprogramm», sagt Ulrike Sanwald. Die leitende Ärztin der Integrierten Psychiatrie Winterthur-Unterland sieht NA-Meetings zwar als eine Möglichkeit für viele Suchtpatienten. «Aber bei Opiatabhängigen, etwa bei Heroin, birgt das Abstinenzkonzept der NA Gefahren.»
In der Abstinenz entwöhne sich der Körper schnell von der Substanz. «Kommt es aber zu einem Rückfall, können schon Bruchteile der einst gewohnten Opiatdosis zu einer Überdosierung führen.» Das medizinische Risiko sei bei einem Rückfall mit Opiaten viel höher als bei Kokain oder Alkohol. Wer hingegen auf Methadon einen Rückfall habe, sei weniger gefährdet. «Ich wäge deshalb zusammen mit den Patienten Chancen und Risiken des Abstinenzansatzes ab.» Schliesslich müssten die Patienten selber entscheiden, was sie wollen.
Die radikale NA-Abstinenzlehre werde in der Praxis oft locker gehandhabt, weiss Oberärztin Proescholdt von ihren Basler Patienten. «Die Selbsthilfegruppe schreibt zwar Abstinenz gross. Aber dennoch fühlen sich viele Patienten mit Drogenersatz aus unserer Klinik wohl da.» Wichtig sei, dass alles freiwillig sei. «Es gibt keine Anwesenheitspflicht, keine Gehirnwäsche. Wem es zu viel wird, kann gehen. Die NA ist keine Sekte. Sonst würden wir sie nicht als Möglichkeit empfehlen.» Klar berge ein abstinentes Leben Risiken. Aber auch ein kontrollierter Konsum sei kein einfacher Weg.
Thomi weiss, wie gefährlich ein Rückfall für ihn wäre. «Ein Bekannter ist nach über zehnjähriger Abstinenz an Drogen gestorben. Das hat mich sehr mitgenommen.» Er lebe abstinent, weil er die Sucht nicht kontrollieren könne. Wenn andere kontrolliert konsumierten, sei das okay.
Vielleicht seien cleane Heroinsüchtige eine Minderheit. «Abstinenz ist nicht für alle der richtige Weg, aber sie ist möglich. Ich bin der lebende Beweis.» Sie ermögliche ihm ein Leben, das er liebe. «Ich habe mir meine Freiheit und mein Glück zurückerobert, dank NA, dank Meditation und dank Karate.»
Die Schweizer Sektion von Narcotics Anonymous feiert ihren 30. Geburtstag. Auf dem Platzspitz in Zürich, wo vom 19. bis 21. Juli die Europäische Konferenz von Narcotics Anonymous stattfindet. 27 Jahre nach der Räumung des «Needle Park» diskutieren mehr als 1000 cleane Suchtbetroffene über ihr Leben ohne Drogen. Gegründet wurde die Organisation Narcotics Anonymous 1953 in den USA. Heute existiert sie in 139 Ländern. Am meisten Gruppen gibt es in den Vereinigten Staaten und im Iran.