Methadon kann fatale Folgen haben
Seit eine deutsche Chemikerin Methadon als neue Wunderwaffe gegen Krebs propagiert, verlangen Patienten ultimativ nach dem Stoff – und unterschätzen das Risiko.
aktualisiert am 28. Juni 2018 - 11:03 Uhr
Die Ärzte sind ratlos, als Markus Keller* letztes Jahr Mitte Juli in die ambulante Krebs-Sprechstunde kommt. Der 66-Jährige macht einen seltsamen Eindruck. Als stünde er neben den Schuhen. Ihm sei ständig übel, er wolle nur noch schlafen, klagt der Patient, der wegen Prostatakrebs seit einigen Monaten am Kantonsspital Graubünden in Chur behandelt wird. Seine Partnerin sagt dem diensthabenden Onkologen, so apathisch habe sie ihren Mann noch nie erlebt, sie erkenne ihn kaum wieder.
Der Arzt fragt, ob sich seit der letzten Kontrolle etwas verändert habe. Ob er vielleicht ein zusätzliches Medikament nehme. Schliesslich zieht der Patient einen Zettel hervor – ein Rezept für Methadon. Auf dem Papier steht auch das Schema, nach dem er das Opioid einnehmen und die täglichen Dosen steigern soll.
Der Onkologe zeigt das Rezept dem Palliativmediziner des Spitals, der sich mit Methadon auskennt. Dieser runzelt die Stirn. Das Tempo für die Steigerung der Dosis ist viel zu hoch. Der Patient hat Vergiftungserscheinungen von einer Überdosis Methadon . Wie vor ihm ein anderer Krebspatient am Kantonsspital Graubünden. Er war mit ähnlichen Symptomen in die Sprechstunde gekommen.
Roger von Moos, Chefonkologe am Kantonsspital Graubünden, geht der Sache nach. Es stellt sich heraus, dass Markus Keller das Methadon von seinem Hausarzt verschrieben bekommen hat. Dieser hat sich an ein Schema der deutschen Chemikerin Claudia Friesen aus Ulm gehalten. «Es wäre gut, wenn man zweimal 35 Tropfen erreichen könnte», hatte sie ihm gemailt. «Je höher die Dosierung, umso besser. Bei den meisten sieht man ein gutes Ansprechen bei zweimal 35 Tropfen (je 17,5 Milligramm).»
«Das ist völlig fahrlässig», sagt Onkologe von Moos. «Im Fernsehen ein angebliches Wundermittel gegen Krebs anpreisen, als befänden wir uns im tiefsten Mittelalter, ist schlimm genug», meint er. «Aber solche Rezepturen durch die Gegend zu schicken und Patienten potenziell in Lebensgefahr zu bringen, das geht gar nicht.» Im Kantonsspital Graubünden sind die beiden Fälle glimpflich ausgegangen. Das Methadon wurde bei beiden Patienten abgesetzt, die Nebenwirkungen verschwanden.
Die unheimliche Geschichte begann Mitte April im Ersten Deutschen Fernsehen. Die Sendung «Plusminus» berichtet über eine neue «Wunderwaffe» gegen Krebs: Methadon. Hoffnungslos kranke Krebspatienten wurden geheilt, angeblich, weil sie neben der Chemotherapie auch Methadon bekamen.
Hinter den Heilsgeschichten steht eine Chemikerin aus Ulm. Claudia Friesen, die am Institut für Rechtsmedizin der Universität Ulm arbeitet, hat vor zehn Jahren zufällig herausgefunden, dass Methadon im Labor gezüchtete Krebszellen abtötet.
Friesen stellte fest: Wenn Methadon mit Chemotherapeutika kombiniert wird, ist die Wirkung stärker. Sie wiederholte die Kombination im Tierversuch, mit ähnlichen Resultaten.
Warum also Methadon nicht bei krebskranken Menschen einsetzen? Das ist der logische nächste Schritt. Doch dafür braucht es klinische Studien – saubere Tests an Patienten, die zeigen, dass die Substanz einer klassischen Krebstherapie überlegen ist.
Claudia Friesen hätte – auch nach Einschätzung anderer Wissenschaftler – vielversprechende Laborergebnisse vorzuweisen, um eine klinische Studie auf den Weg zu bringen. Die Uni Ulm hält zwei US-Patente für Erfindungen in der Kombinationstherapie von Opioiden und Anti-Krebs-Medikamenten – als Urheberin gilt Claudia Friesen. Doch ihr gelingt es nicht, Forscherkollegen oder gar eine Pharmafirma als mögliche Geldgeberin restlos vom krebshemmenden Potenzial der Substanz zu überzeugen. Das Patent für Methadon ist seit Jahrzehnten abgelaufen, das Mittel spottbillig. Kein grosser Anreiz für Pharmafirmen, die mit neuen Medikamenten ja vor allem Geld verdienen wollen.
Also wählt Friesen einen anderen Weg. Sie beginnt eine Zusammenarbeit mit einem deutschen Palliativmediziner, der Methadon oft als Schmerzmittel bei Krebspatienten einsetzt. Sie dokumentiert auf eigene Faust die Fälle Dutzender Patienten, bei denen Metastasen verschwanden und Tumoren stark schrumpften – angeblich dank Methadon. Sie berät Patienten via E-Mail und Telefon, sie hält Vorträge vor Fachleuten und tritt schliesslich im Fernsehen auf.
Nach der «Plusminus»-Sendung vom April verbreitet sich die Kunde wie ein Lauffeuer: Methadon ist der neue Krebskiller. In Spitälern und Arztpraxen fordern Patienten ultimativ den Stoff – auch in der Schweiz. So einen Hype habe es noch bei keiner Substanz gegeben, sagen Gesundheitsfachleute unisono.
Nun also die Überdosierungen am Kantonsspital Graubünden – und auch andernorts. In Deutschland ist eine 57-jährige Patientin an den Folgen sogar gestorben. Ist Methadon also lebensgefährlich?
Antworten hat der Palliativmediziner Daniel Büche vom Kantonsspital St. Gallen, der zu Methadon und anderen Opioiden viel publiziert hat. Büche sagt, er setze Methadon in der Schmerzbehandlung bei chronischen und neuropathischen Schmerzen ein, beispielsweise bei Phantomschmerzen, bei Diabetes oder den ausstrahlenden Schmerzen einer Diskushernie.
«Die therapeutische Schwierigkeit von Methadon liegt in seiner sehr langen Halbwertszeit», sagt er. Bei Methadon sind es zwischen 17 und 72 Stunden – bei Morphin nur sechs Stunden. Das bedeutet: Bei Methadon kann es bis zu zwei Wochen dauern, bis die Substanz ihre volle Wirkung im Körper entfaltet. «Die Dosis darf deshalb nur sehr langsam gesteigert werden», sagt Büche.
Das von Friesen verbreitete Schema zur Dosis-Steigerung hält der St. Galler Facharzt für «ambitioniert». Es müsse nicht, könne aber bei manchen Patienten sehr gefährlich werden. «Bewusstlosigkeit, Atemstillstand – das sind die Folgen bei Extremfällen.»
Aber nicht nur die Dosis, auch das Zusammenspiel mit anderen Medikamenten sei heikel, gerade in der Tumortherapie. «Wenn zum Beispiel gewisse Antibiotika oder Pilzmittel gleichzeitig eingesetzt werden, kann das Methadon seine Wirkung deutlich verstärken.» Kombiniert mit Johanniskraut hingegen, das viele Krebspatienten als Begleittherapie nehmen, lässt Methadon in der Wirkung stark nach. Wenn das Johanniskraut dann abgesetzt wird, steigt der Methadonspiegel rasch an und kann toxische Werte erreichen.
«Was Claudia Friesen herausgefunden hat, ist höchst spannend. Wir als Gesellschaft müssen dafür sorgen, eine klinische Studie hinzubekommen.»
Daniel Büche, Palliativmediziner am Kantonsspital St. Gallen
Trotzdem sei er weit davon entfernt, Methadon zu verteufeln, so Büche. «Was Claudia Friesen herausgefunden hat, ist höchst spannend.» Nun sei es die Aufgabe der Onkologen, dem nachzugehen. Über die Pharmaindustrie zu wettern, hält Büche für verfehlt. «Das Gesundheitswesen – das sind wir alle», sagt er mit Nachdruck. «Wir als Gesellschaft müssen dafür sorgen, eine klinische Studie hinzubekommen.» Methadon wäre nicht das erste «alte» Medikament, das einen zweiten Frühling erlebt.
* Name geändert
«So etwas haben wir bisher kaum gesehen»
Krebstherapien müssen für alle bezahlbar bleiben – auch Immuntherapien, sagt Krebsspezialist Roger von Moos. Doch dazu müsse man die unabhängige Forschung stärken.
6 Kommentare
Unverantwortliche Angstmacherei! Selbstverständlich kommt es auch die Dosierung an. Wie immer und bei allem!
Methadon d,l in Verbindung mit der Chemotherapie wirkt und zwar bei jedem Krebs! Es ist die mit Abstand wirksamste Methode den Krebs zu besiegen, um nicht zu sagen die einzige- und dabei noch spottbillig !
Sowas hätte ich nicht vom Beobachter erwartet!...