Brüste mit vier
Einem kleinen Mädchen wachsen Brüste. Eine so frühe Reife kann schwerwiegende Folgen haben – doch die Turboentwicklung lässt sich aufhalten.
Veröffentlicht am 23. November 2018 - 11:41 Uhr,
aktualisiert am 22. November 2018 - 11:28 Uhr
Nora* war ein ganz normales Kleinkind. Aufgeweckt und ein wenig naseweis. Als die Vierjährige plötzlich schneller wuchs als ihre Freundinnen, freuten sich die Eltern; sie selber sind nicht besonders gross. Doch Wochen später entdeckte Claudia Mahler* an der linken Brust des Töchterchens eine Erhebung. Ihr wurde mulmig. Nicht gleich ausflippen, sagte sie sich. Ein Insektenstich? Kurze Zeit später war auch auf der anderen Seite eine Schwellung spürbar.
Claudia Mahler rannte fast zum Telefon: «Kommt meine Tochter in die Pubertät ?», fragte sie den Kinderarzt. «Unmöglich», meinte dieser, «nicht mit vier.» Die Bernerin war beruhigt, aber bereits in der folgenden Nacht plagte sie das ungute Gefühl wieder. Sie rief nochmals an, verlangte mit Nachdruck eine Überweisung zu einem Spezialisten. Dieser bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen: Anzeichen einer angehenden Pubertät. Nora leide an einer Pubertas praecox, einer zu frühen Reifung.
Mädchen sind viel häufiger von dieser Erkrankung betroffen als Buben. Die sekundären Geschlechtsorgane bilden sich aus, die Kinder wachsen mehr als acht Zentimeter pro Jahr.
Die meisten Kinder mit dieser Diagnose sind älter als Nora. Von einer Pubertas praecox spricht man, wenn Mädchen vor dem achten Lebensjahr Pubertätszeichen entwickeln, Buben vor dem neunten. Aber mit vier? «Warum unsere Nora?», fragten die Eltern den Arzt. Er hatte keine Antwort.
«Das ist etwas, das die Natur eigentlich nicht zulassen darf», sagt Urs Eiholzer, Leiter des Pädiatrisch-Endokrinologischen Zentrums in Zürich. Er sieht täglich Kinder mit Hormonstörungen. Das jüngste menstruierende Mädchen in seiner Praxis war gerade mal zwei Jahre alt. Solche Fälle sind laut Eiholzer zum Glück äusserst selten.
Die Folgen einer so frühen Reife sind massiv. Sie führen zu psychischen und sozialen Problemen, aber auch zu einem frühzeitigen Wachstumsstopp. Denn die beginnende Pubertät treibt das biologische Alter voran. Die Kinder hören also auf zu wachsen, bevor sie ausgewachsen sind.
«Viele Eltern machen sich Vorwürfe. Aber die verfrühte Pubertät hat nichts mit dem Lebensstil zu tun, nichts mit der Erziehung.»
Urs Eiholzer, Leiter des Pädiatrisch-Endokrinologischen Zentrums Zürich
Die Wachstumskurve ist für Eiholzer ein wichtiger Indikator für die Diagnose. «Wenn Kinder schneller wachsen, ist das für die meisten Eltern eine Freude. Aber falls ein Kind die Wachstumskurve deutlich verlässt, ob nach unten oder oben, ist das immer ein Alarmzeichen.»
Bei einem Kind wie Nora bestimmt Eiholzer mittels Handröntgenbild das Knochenalter. Bei Mädchen untersucht er zudem per Ultraschall die Grösse der Gebärmutter. Wenn Geschlechtshormone im Spiel sind, verändert sie Form und Grösse. Zudem erhalten Mädchen und Buben eine einmalige, geringe Dosis eines Hormons. Die Reaktion gibt Hinweise darauf, ob das Kind bereits in der Pubertät steckt. Wenn sich Anzeichen einer Pubertas praecox zeigen, folgt eine Tomografie, um Tumore auszuschliessen. Denn manchmal sind es solche – im Hirn, an Eierstöcken oder Hoden –, die eine Pubertät auslösen. Bei Buben sind sie in bis zu 30 Prozent der Fälle dafür verantwortlich.
Das Alter des Eintritts in die Pubertät hat sich in den vergangenen 140 Jahren um etwa vier Jahre nach vorn verschoben. Die Gründe dafür sind nicht vollständig geklärt. Die verbesserte Ernährung scheint verantwortlich zu sein, aber auch Chemikalien wie der Weichmacher Bisphenol A stehen im Verdacht. Eine Untersuchung der Universität von Arizona in den USA ergab zudem, dass Mädchen früher in die Pubertät kommen, wenn ihre Eltern sich scheiden liessen und die Väter als sozial auffällig galten.
«Background Noise» nennt das Hormonspezialist Urs Eiholzer – Hintergrundlärm. «Diese Faktoren sind nie allein verantwortlich. Und sie spielen bei extremen Fällen wie jenem von Nora eine untergeordnete Rolle.» Da müsse man ehrlich sein: «Meistens haben wir keine Ahnung, warum es so früh losgeht.»
Das Ehepaar Mahler diskutierte nächtelang: Hätten sie etwas verhindern können? Weniger Süssigkeiten ? Weniger Plastik? «Nein», sagt Spezialist Eiholzer. «Viele Eltern machen sich Vorwürfe, aber die Pubertas praecox hat nichts mit dem Lebensstil zu tun, nichts mit der Ernährung, nichts mit der Erziehung.»
Eine zu früh einsetzende Pubertät muss ärztlich abgeklärt werden. Eine Behandlung ist laut Urs Eiholzer aber nicht immer angezeigt. Es gibt zwar Studien, die darauf hinweisen, dass das Risiko für Diabetes Typ 2, Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt. Doch sie sind umstritten.
Urs Eiholzer setzt auf Gespräche und individuelle Lösungen. «Wenn das Brustwachstum drei Monate vor dem achten Geburtstag einsetzt, wird die erste Periode mit zehn kommen. Da kann man diskutieren – mit den Eltern und mit dem Mädchen.» Falls ein Kind damit zurechtkomme, sei eine Behandlung nicht angezeigt. «Wenn sich das Mädchen aber sehr schämt wegen der Brüste, ist es sinnvoll, etwas zu machen.» «Etwas machen» heisst: die Pubertät stoppen.
Bei so kleinen Kindern wie Nora ist der Stopp unumgänglich. Falls ein Tumor Auslöser ist, behandelt man in erster Linie diesen, meist mit durchschlagendem Erfolg. Am häufigsten findet sich aber keine Ursache. Dann werden monatlich Hormonhemmer gespritzt.
Urs Eiholzer bevorzugt eigentlich Nasensprays, die zwar täglich verabreicht werden müssen, aber schmerzfrei sind. Er bedauert, dass die Krankenkassen oft erst nach längerem Hin und Her bereit sind, die Kosten für den etwas teureren Spray zu übernehmen. «Man muss kein Psychologe sein, um es nicht in Ordnung zu finden, einem Mädchen Schmerzen zuzufügen, damit seine Brüste weggehen.»
«Jedes Mal, wenn ich meine vierjährige Tochter nackt sehe, scanne ich sie: Hat sie zugenommen? Sind ihre Brüste gewachsen?»
Claudia Mahler*, betroffene Mutter
Ob Nadel oder Spray – die Behandlung ist unproblematisch. Bei Erwachsenen können Hormonhemmer erhebliche Nebenwirkungen verursachen, bei Kindern nicht. «Wir blockieren Hormone, die in diesem Alter sowieso nicht im Körper sein sollten. Darum gibt es kaum Probleme.» Bei beiden Geschlechtern nicht.
Allerdings müsse man sagen: Auch bei rechtzeitiger Behandlung ist nicht garantiert, dass das Kind seine «natürliche» Körpergrösse erreiche. Kinder mit Pubertas praecox bleiben meist ein wenig kleiner.
Wenn alles wie geplant läuft, wird Nora monatlich eine Spritze bekommen, bis sie acht, neun Jahre alt ist. Kurz nach dem Absetzen des Medikaments wird die Pubertät einsetzen. Alles gut also? Für Noras Eltern bleibt die Angst. Ihre Mutter sagt: «Jedes Mal, wenn ich meine Tochter nackt sehe, scanne ich sie: Hat sie zugenommen? Sind ihre Brüste gewachsen?»
*Name geändert
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