113 Tage in der Schicksals-WG
Nach einer Frühgeburt ziehen Sandra und Jan Baumgartner in eine Eltern-Wohngemeinschaft beim Inselspital. Dort bangen sie fast vier Monate um ihren Noel.
Veröffentlicht am 28. August 2020 - 10:48 Uhr
Noel ist ein Viel-zu-Frühchen. Mit 24 Wochen und drei Tagen wird er vom Körper seiner Mama abgestossen. Der Herzschlag setzt aus, ein Alarmknopf wird gedrückt, und plötzlich ist das Spitalzimmer voller Ärzte. Die schieben Papa zur Seite, setzen Mama unter Vollnarkose. Jede Minute zählt. Nur neun vergehen bis zur Geburt, bloss 35 Sekunden dauert der Notkaiserschnitt. Schneiden, zerren, und schon ist Noel da. Sieht nichts und gibt keinen Ton von sich. Der Kopf so gross wie ein Ei, der Körper nur 30 Zentimeter lang. Fünfmal leichter, als er sein sollte.
Es ist der 31. Oktober 2019. Für die Eltern beginnt eine neue Zeitrechnung. Tag eins von 113 Tagen voller Sorge und Liebe, wie sie später sagen.
Extreme Frühchen wie Noel dürfen nicht nach Hause. Auf der Intensivstation lernen sie, zu atmen, zu essen, zu funktionieren. Noels Zustand ist kritisch. Im kleinen Körper stecken Schläuche, über dem Brutkasten flimmern Monitore. Davor stehen Sandra und Jan, fast rund um die Uhr. Notfälle sind häufig, ständig läutet der Alarm. Zurück nach Hause? Undenkbar.
Für Fälle wie diesen betreiben Stiftungen Unterkünfte in der Nähe von Spitälern. So können Angehörige schnell reagieren und ihre kranken Kinder regelmässig besuchen. Das wirkt sich positiv auf den Heilungsprozess aus, wie zahlreiche Studien belegen. Oft handelt es sich um möblierte Zimmer, manchmal aber auch um Wohngemeinschaften, in denen sich die Eltern gegenseitig unterstützen können.
So zum Beispiel in den Elternhäusern der Ronald McDonald Kinderstiftung. Mit Burgern und Pommes haben sie nichts zu tun. Der Fastfoodkonzern setzt sich seit den 1970er-Jahren weltweit für Familien mit schwerkranken Kindern ein. In der Schweiz wurde das erste von sieben Häusern 1994 in Genf eröffnet, jährlich hilft das Angebot rund 1500 Familien. «Als wir vom Berner Elternhaus hörten, mussten wir nicht lange überlegen», sagt Jan Baumgartner. Es steht direkt neben der Kinderklinik und kostet 20 Franken pro Nacht.
Ein letztes Mal fährt das Paar nach Brienz, um das Nötigste zu holen. Und Yonah, Noels zweijährigen Bruder. Dann ziehen sie in den weissen Altbau mit den grünen Fensterläden, ihr neues Zuhause auf Zeit. Auf drei Etagen beherbergt es elf Familien, drei weitere kommen im Nachbarhaus unter. Sie alle treffen sich im Wohnzimmer, in der Küche oder im Garten. Dort teilen sie Besteck und Befürchtungen, Spielzeug und Sehnsüchte. Warten gemeinsam, bis alles ein wenig leichter wird.
Die Schwangerschaft mit Noel verläuft lange problemlos. Doch dann hat Sandra einen Infekt. Ihre Fruchtblase platzt, die Wehen kommen. Viel zu früh, denn vor der 24. Woche ist das Risiko gross, dass Babys sterben oder schwerstbehindert sind. Die Schwangere muss ins Inselspital, so schnell wie möglich. Dort steht eine Schar von Ärzten bereit: Gynäkologin, Anästhesist, Kinderärztin, Kardiologe. Sie alle klären Sandra über mögliche Szenarien auf. Sind auf das Schlimmste vorbereitet, falls das Baby kommen sollte. Auf Hirnschäden, Darmprobleme, Herzfehler und Atemnot.
Wer im Elternhaus wohnt, tut dies in vielen Fällen ungeplant. «Krankheiten treffen alle», sagt Orlanda Vetter, Leiterin des Standorts Bern. Manchmal ist eine Herzoperation oder eine Tumorbehandlung geplant, dann melden sich Eltern über ein Formular auf der Website. «Falls der Platz im Haus knapp ist, haben schwere Fälle oder Eltern mit langem Anfahrtsweg Vorrang. Das ist zum Glück selten der Fall», sagt Vetter.
Die 58-Jährige ist die gute Seele des Elternhauses – Vermittlerin, Betreuerin und Organisatorin in einem. Beliebt, weil sie spürt, was Familien brauchen. So kocht sie Tee, um Trost zu spenden, und stösst mit einem Glas Wein auf gute Nachrichten an. Spricht mal italienisch, mal französisch und oft mit den Händen. Redet, schweigt, lacht oder spielt – was immer gerade nötig ist.
Ihr Elternhaus mag sie am liebsten, wenn alles drunter und drüber geht. Wenn im Garten Kinder schreien, am Wochenende Besuch eintrudelt. Doch wenn von Zeit zu Zeit der Tod anklopft, wird es still im Haus. Weil jeder an sein krankes Kind auf der Intensivstation denkt. Dann zündet Orlanda Vetter ein Kerzli an. Früher hat sie in der Psychiatrie gearbeitet, mit Trauer kann sie umgehen. «Und trotzdem: Wenn ein Bébé stirbt, kommen mir manchmal die Tränen.»
Die Baumgartners ziehen am 5. November ins Zimmer «Efeu» im ersten Stock: Doppelbett, Beistellbett, kleines Bad. Jan ist es, der nun Entscheidungen trifft. Seine Frau lässt sich mitziehen, von der Geburt traumatisiert: «Am Anfang wollte ich mein Kind gar nicht sehen, wäre am liebsten weggelaufen.»
Die erste Zeit ist intensiv, oft kommt das Paar an die Belastungsgrenze. In schlaflosen Nächten besuchen sie Noel, lernen ihn kennen und versuchen, ihre Hoffnungen klein zu halten. «Wir waren bereit, ihn gehen zu lassen», sagt Sandra. Am Tag spricht das Paar mit Fachärzten und Psychologinnen, tauscht sich mit anderen Eltern aus. So entstehen in der «WG der verwaisten Eltern», wie Sandra sie nennt, schnell Freundschaften.
Ein neuer Alltag bürgert sich ein. Jan besucht seinen Sohn am Morgen, noch vor der Visite. Wickelt, wäscht, verwöhnt ihn. Dann setzt er sich für eine Weile an den Laptop. Der 31-Jährige ist Geograf bei den Kraftwerken Oberhasli. In den ersten Wochen arbeitet er gar nicht, dann nur wenige Stunden am Tag. «Mein Team zeigte viel Verständnis. Wenn ich im Büro aufgetaucht wäre, hätte mich mein Chef persönlich zurück nach Bern gefahren», sagt er. Sandra ist selbständige Kommunikationsberaterin und lässt ihre Arbeit für ein paar Monate ruhen.
Die Eltern teilen den Tag in Schichten – einer verbringt den Nachmittag mit Yonah, der andere bei Noel, nach dem Znacht wechseln sie. Beide haben Noel stundenlang auf dem nackten Oberkörper. Die «Känguru-Methode» verbessert die Bindung zwischen Eltern und Kind und fördert Noels Entwicklung. Die Monitore zeigen, wie sich die Werte stabilisieren, wenn Noel die Haut der Eltern spürt, ihren Körper riecht, den Herzschlag hört.
Yonahs Besuche sind häufig, aber kurz. Die Intensivstation macht ihm Angst, lieber spielt er mit anderen Kindern. «Die Erfahrung hat ihn sicher geprägt, aber traumatisiert ist er nicht», sagt Sandra. «Wir konnten im Elternhaus viel Zeit als Familie verbringen.» Dort kochen sie zusammen, holen auch mal einen Kebab. Feiern Geburtstage mit Muffins und Weihnachten mit einem kleinen, blinkenden Christbaum, der das «Efeu» nachts zur Disco macht.
Noel erholt sich langsam, aber stetig. In der 36. Woche darf ihn seine Mutter zum ersten Mal an die Brust setzen. «Er hat sofort ein wenig getrunken», erinnert sich Sandra. Über Wochen übt sie mit Noel das Stillen. Sie und Jan werden zu Profis, ernähren, versorgen und verkabeln den Kleinen. Bangen vor den Monitoren, bis das Ziel erreicht ist: 72 Stunden ohne Komplikationen. Dann darf Noel nach Hause. Ohne Magensonde, Sauerstoff und Monitor. Am 20. Februar, am Tag 113, ist es so weit. Noel kann schreien, trinken und blinzeln. Wiegt 3330 Gramm, ist 48 Zentimeter lang. Atem und Herzschlag sind stabil. Ein letztes Mal schläft die Familie im Elternhaus, dann geht es zurück ins Brienzer Chalet.
«Manchmal stehe ich noch heute am Kinderbett und kontrolliere, ob Noel lebt», sagt Jan. Die Frühgeburt wird ihn und seine Familie für immer prägen. Wie genau, wird man nicht sagen können. So ist beispielsweise Noels Lunge nicht vollständig entwickelt. Er muss sich vor Infekten und dem Coronavirus in Acht nehmen. Trotzdem soll er ein möglichst normales Leben führen, das ist seinen Eltern wichtig. «Langsam gelingt es mir, Noels medizinische Geschichte loszulassen», sagt Sandra. «Ihn nicht mehr als Patienten zu sehen, sondern als meinen Sohn, der fürs Leben gern badet und lacht.»
Ab Januar 2021 steht Eltern eines schwerkranken oder verunfallten Kindes ein Betreuungsurlaub von 14 Wochen zu, der über die Erwerbsersatzordnung finanziert wird. Eltern können die Tage frei unter sich aufteilen und den Urlaub innerhalb von 18 Monaten tageweise oder am Stück beziehen. Bis es so weit ist, dürfen sie nur bis zu drei Tage bei der Arbeit fehlen.
Ist das Kind für lange Zeit im Spital, müssen die Eltern Ferientage opfern oder eine Lösung mit dem Arbeitgeber suchen. In schweren Fällen – wenn die Anwesenheit eines Elternteils am Krankenbett erforderlich ist – sind ausnahmsweise auch längere bezahlte Absenzen möglich.