Schaufensterkrankheit ist ein Warnsignal
Wenn ältere Menschen alle paar Meter vor einem Schaufenster stehen bleiben, sind sie nicht kaufsüchtig, sondern leiden oft an einer Gefässverengung. Und diese ist alles andere als harmlos.
aktualisiert am 2. Mai 2019 - 13:47 Uhr
Urs Lang (Name geändert) war 72, als er beschloss, dass es so nicht weitergehen konnte. Der Architekt aus der Agglomeration Zürich konnte kaum noch 200 Meter am Stück gehen, schon schossen ihm die Schmerzen in die rechte Wade. Er, der vor kurzem noch täglich eine Wanderung unternommen hatte, musste stehen bleiben und sich ausruhen. Lang machte einen Termin bei seinem Hausarzt.
«Krampfartige Schmerzen beim Gehen sind typisch für die periphere arterielle Verschlusskrankheit», sagt Beatrice Amann-Vesti, im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Angiologie (SGA) und niedergelassene Ärztin im Herz-Gefäss-Zentrum Zürich. Die mit PAVK abgekürzte Erkrankung wird durch verstopfte oder verengte Gefässe verursacht.
«Peripher» bedeutet – in Abgrenzung zu den Gefässerkrankungen, die das Zentrum des Körpers betreffen, also etwa Herzkranzgefässe oder die Halsschlagader –, dass bei der PAVK die Gliedmassen schlecht durchblutet sind. «Zu 90 Prozent betrifft die PAVK die Beine, zu 10 Prozent die Arme», sagt Nils Kucher, Direktor der Klinik für Angiologie am Universitätsspital Zürich (USZ).
Durch die Gefässverengung fehlt Sauerstoff im Muskel – besonders wenn dieser belastet wird. Patienten haben deshalb Schmerzen beim Gehen. «Sie müssen häufig stehen bleiben und überspielen gelegentlich ihre Symptome, indem sie sich die Auslagen von Geschäften anschauen», sagt Kucher. «Schaufensterkrankheit» heisst die PAVK daher im Volksmund.
«Viele Patienten und sogar Ärzte halten die von der PAVK verursachten Schmerzen allerdings für Muskelbeschwerden», sagt Amann-Vesti. Dabei ist die Unterscheidung auch für Laien möglich: Wadenkrämpfe treten in Ruhe und oft nachts auf, PAVK-Beschwerden dagegen während körperlicher Belastung und immer nach etwa der gleichen Gehstrecke. Zudem schmerzt es jeweils an der gleichen Stelle. PAVK-Beschwerden verschwinden, wenn der Betroffene ein bis zwei Minuten stehen bleibt – Wadenkrämpfe dagegen sind kurzfristig hartnäckiger und bessern sich eher durch Muskeldehnung.
«Allerdings macht die PAVK im Anfangsstadium nur bei jedem zehnten Patienten Beschwerden beim Gehen», sagt Amann-Vesti. «Wer keine Schmerzen hat, geht nicht zum Arzt – deshalb bleibt die Krankheit oft unerkannt.» Dabei ist die PAVK weit verbreitet. Betroffen ist jeder fünfte Schweizer über 60 Jahren.
Verengung oder Verschlüsse von Arterien in Beinen und Armen können drastische Folgen für den Patienten haben. Durch die mangelnde Durchblutung stirbt das Gewebe ab, wird im folgenschwersten Fall schwarz. «Es können auch Blutgerinnsel entstehen, die Gefässe plötzlich verschliessen», sagt Kucher. «Im schlimmsten Fall führt die unbehandelte PAVK zur Amputation oder gar zum Tod.»
Ausgelöst wird die periphere arterielle Verschlusskrankheit durch Atherosklerose (auch Arteriosklerose), die umgangssprachlich als «Verkalkung» der Gefässe bezeichnet wird. «Atherosklerotische Plaque besteht unter anderem aus Cholesterin, Fettsäuren und Kollagenen», sagt Kucher. Darin lagert sich häufig Calciumphosphat ein. Es handelt sich also nicht wirklich um Kalk (Calciumcarbonat), sondern um die Substanz, aus der auch unsere Knochen bestehen.
Der Ablagerung voraus geht ein entzündlicher Prozess, dessen Ursache noch nicht abschliessend geklärt ist. Aber so viel ist klar: Weder setzt sich direkt Cholesterin an der Gefässwand ab noch Kalk aus dem Trinkwasser.
«PAVK ist ein Warnzeichen, dass lebensgefährliche Notfälle bevorstehen können.»
Beatrice Amann-Vesti, Fachärztin für Erkrankungen von Arterien, Venen und Lymphgefässe an der Hirslandenklinik
Die PAVK hat damit die gleiche Ursache wie Herzinfarkte und die überwiegende Anzahl von Schlaganfällen. «Die Krankheit ist ein Warnzeichen, dass lebensgefährliche Notfälle bevorstehen können», sagt Amann-Vesti. «40 Prozent der Patienten haben gleichzeitig eine koronare Herzkrankheit, und das Risiko für einen Schlaganfall wächst enorm.»
Urs Langs Hausarzt schickte ihn mit Verdacht auf die «Schaufensterkrankheit» zu Amann-Vesti. Sie machte eine Duplexsonografie, eine Ultraschalluntersuchung, mit der man den Blutfluss messen kann. Diagnose: verengte Gefässe in der rechten Leiste und Wade.
Die Lebensweise eines Menschen beeinflusst das Risiko für Arteriosklerose massgeblich. Dreifach erhöht ist es bei Rauchern – die PAVK wird im fortgeschrittenen Stadium auch als «Raucherbein» bezeichnet. «Weiterhin gefährdet sind Diabetiker , Bluthochdruckpatienten und Menschen, die eine Nierenfunktionsstörung oder einen erhöhten Cholesterinspiegel haben», sagt Nils Kucher vom USZ.
Wenn bei einem Patienten eine PAVK diagnostiziert wird, versuchen die Ärzte zuerst einmal, ihn von Tabakverzicht, Gewichtsreduktion, gesunder Ernährung und mehr Bewegung zu überzeugen. Die Behandlung der PAVK besteht zunächst in strukturiertem Gehtraining. «Drei- bis fünfmal pro Woche mindestens eine halbe Stunde gehen», empfiehlt Amann-Vesti. «Durch die Bewegung übernehmen andere Gefässe in der Umgebung die Funktion der verengten Arterien – es entstehen Umgehungskreisläufe.»
«Eine Studie hat gezeigt, dass Schrittzähler noch besser motivieren als Gruppentraining.»
Beatrice Amann-Vesti, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Angiologie (SGA)
Es gibt schweizweit Gruppen, in denen Physiotherapeuten Patienten anleiten. «Das Training in der Gruppe motiviert», sagt Amann-Vesti. «Aber die meisten Patienten wollen lieber für sich gehen.» Dabei fehle ihnen allerdings oft die Konsequenz. Hoffnung für die Bewegungsmuffel macht moderne Technik. «Eine Studie hat gezeigt, dass Schrittzähler, wie sie heute auf jedem Smartphone installiert werden können, sogar noch besser motivieren als Gruppentraining.»
Doch was tun mit einem Patienten wie Urs Lang? Das Rauchen hatte er schon fünf Jahre zuvor aufgegeben, er hatte weder Übergewicht noch Diabetes, seinen erblich bedingt erhöhten Cholesterinwert senkte er bereits mit Medikamenten. Ausserdem hatte er sich immer viel bewegt – solange es noch ging.
«Manchmal ist Arteriosklerose zu einem grossen Anteil Veranlagung», sagt Amann-Vesti. «Die Gene sind immer ein Faktor – man sollte Patienten mit Gefässerkrankungen nie die alleinige Schuld dafür geben.» Bei Urs Lang, das erkannte die Ärztin gleich, würde Gehtraining allein nichts bringen, schliesslich hatte er genau das über Jahre versucht.
Er war damit Kandidat für ein minimalinvasives Verfahren – die sogenannte Ballondilatation (siehe Infografik unten). Dabei werden durch einen kleinen Stich in der Leiste ein Draht und ein Ballonkatheter in die Beinschlagader eingeführt. Dieser kann mit bis zu über 10 Bar aufgeblasen werden. So wird die Engstelle gedehnt, oft wird zusätzlich ein Stent, ein Röhrchen aus Metallgitter, eingesetzt.
Heute sind die Ballone meist mit dem Medikament Paclitaxel beschichtet. Dies soll gegen das erneute Zuwuchern der Arterie wirken. Eine Studie, die 2018 unter anderem von Basler Wissenschaftlern veröffentlicht wurde, zeigte, dass ein mit dem Medikament beschichteter Ballon denselben Effekt hat wie die Implantation von Stents. Ersteres hat Amann-Vesti bei Urs Lang angewendet.
Bei der Katheteruntersuchung wurden am Röntgenschirm gleichzeitig zwei Engstellen in der Wade und eine in einem Herzkranzgefäss entdeckt – und aufgedehnt. «Heute werden 90 Prozent der Eingriffe an verengten Gefässen minimalinvasiv gemacht», sagt Nils Kucher. Nur wenn Gefässe nahezu komplett verschlossen sind, öffnen Chirurgen sie von aussen, um die arteriosklerotische Plaque herauszuschälen.
Das war bei Urs Lang an der Halsschlagader der Fall, die zu 85 Prozent blockiert war – ohne dass er etwas gespürt hatte. Auch diesen Eingriff – notwendig wegen des erhöhten Schlaganfallrisikos – hat er mittlerweile hinter sich gebracht. Mehr Einfluss auf sein Leben hatte aber die Ballondilatation in den Beinarterien.
«Ich konnte am gleichen Tag wieder nach Hause.» Urs Lang klingt drei Monate später immer noch sehr begeistert. Inzwischen wandert er wieder, täglich.
Behandlungsmethode bei PAVK
Durch einen kleinen Einstich in der Leiste wird ein mit einem Medikament beschichteter Ballonkatheter in die Beinarterie bis an die Gefässverengung eingeführt (1). Durch das Aufblasen des Ballons wird die verengte Stelle erweitert und das Medikament übertragen (2). Nach dem Abziehen des Ballons wirkt das Medikament gegen das erneute Zuwuchern der Arterie (3).
Das sind die Symptome bei klassischen Wadenkrämpfen:
- Treten in Ruhe und oft nachts auf.
- Sie sind kurzfristig hartnäckiger und bessern sich eher durch Dehnen.
Das sind PAVK-Beschwerden:
- Treten bei körperlicher Belastung und immer nach ungefähr der gleichen Gehstrecke auf.
- Zudem schmerzt es jeweils an der gleichen Stelle.
- Sie verschwinden, wenn der Betroffene ein bis zwei Minuten stehen bleibt.