«Ich bin ein bisschen Cyborg geworden»
Lea Mehli hat nur eine Hand, eine Prothese wollte sie nie. Jetzt trägt die 26-Jährige eine Hightech-Hand, die sie mit ihren Gedanken steuern kann.
Aufgezeichnet von Melanie Wirz:
Der Stumpf unter dem Ellbogen war immer das Ende meines linken Arms. Ich bin mit nur einer Hand auf die Welt gekommen und hatte 25 Jahre lang nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt.
Das Einzige, was ich wirklich nie konnte, war Gemüse schnippeln. Das klingt fast lächerlich. Wenn man aber Freunde zum Abendessen einlädt, ist das essenziell.
Meine Eltern behandelten mich nie anders als meine beiden Brüder. Ich musste lernen, mir die Schuhe zu binden, meinen Rucksack zu packen, Velo zu fahren. Als ich klein war, klauten mir die Nachbarskinder sogar mein Velo. Weil sie neidisch waren, dass ich, die einhändige Lea, bereits Velo fahren konnte und sie nicht.
An die Blicke gewöhnt man sich, wenn man älter wird. Heute sind sie mir ganz egal. Ich bin Kleinkinderzieherin, und die Kinder fragen mich zuerst immer neugierig, wieso mir eine Hand fehlt. Danach ist das Thema für sie erledigt. Ich bin für sie ein Mensch wie jeder andere – halt mit nur einer Hand. Ich wollte auch nie eine Prothese, nur damit ich aussehe wie alle anderen. Eine hautfarbene Silikonhand, die bloss da ist, um meinen Stumpf abzudecken, war keine Option für mich.
Kurz vor Weihnachten vor einem Jahr – ich sass zu Hause in Chur – zeigte mir mein Freund Andreas das Social-Media-Profil einer jungen Frau: Angel Giuffria, die dasselbe Handicap hat wie ich. Sie sagt, sie sei ein Cyborg, trägt eine Super-Hightech-Prothese und hat über 30'000 Follower auf Instagram . Sie feiert ihr Handicap. Das machte mich neugierig – und inspirierte mich. Ich informierte mich. Beim Orthopäden, bei der IV, die mir das alles schliesslich ermöglichten.
Heute trage ich eine i-Limb Quantum, die modernste Hand, die es auf dem Markt gibt. 24 Griffmuster kann ich in einer Smartphone-App einstellen und jene vier aktivieren, die ich gerade brauche. Wenn der Akku der Prothese leer ist, lade ich sie über Nacht an einer Steckdose wie das Handy.
Heute kann ich einen Wäschekorb voller Kleider mit beiden Händen tragen. Das mag banal klingen, doch für mich bewegt diese Hand so viel mehr als bloss die Finger daran.
Mit diesem Hightech-Ding an meinem Arm bin ich auch ein bisschen Cyborg geworden. Ein Stück Maschine an mir, das ich selbst steuern kann. Das ist abgefahren – und verdammt anstrengend.
Jede einzelne Zelle meines Hirns muss mitmachen, wenn ich die Hand bewegen will, sonst funktioniert da vorne gar nichts. Irgendwann werde ich das können, es wird automatisch passieren, wie bei jedem Menschen. Doch jetzt, wenn ich eine Red-Bull-Dose greifen möchte, ohne sie gleich zu zerdrücken, oder wenn ich ein Ei heben will, ohne dass mir der gelbe Saft über die Prothese tropft, schiessen mir Schweissperlen auf Stirn und Nasenrücken.
Die Befehle, die mein Hirn an die Muskeln und Nerven im Unterarm sendet, enden nicht mehr beim Stumpf. Elektroden nehmen die Impulse auf und geben sie an die Hand weiter. Reine Kopfsache. Das Gehirn sendet Befehle bei uns Erwachsenen automatisch an die Muskeln. Wahrscheinlich probieren jetzt alle, die das lesen, genau darauf zu achten, ob sie explizit daran denken, wenn sie eine Hand öffnen.
Die Prothese wiegt gut ein Kilo. Als ich anfing, mit ihr zu üben, kriegte ich zum ersten Mal in meinem Leben Muskelkater im linken Arm. Jetzt gehört es fast zum morgendlichen Aufwachen. Die Muskeln oberhalb des Stumpfes sind zwar da, aber sie sind noch schwach. Logisch, ich habe sie ja nie gebraucht.
Meine Grossmutter erzählte den Kindern in Chur immer, der liebe Gott habe bei mir halt die linke Hand vergessen. Was sie wohl jetzt sagen wird?