Franz Immer, Sie sind Direktor von Swisstransplant. Wer hat 2006 in der Schweiz entschieden, welcher Patient ein Organ bekommt?
Vor Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes 2007 wurde zuerst in demjenigen Spital geprüft, ob ein Empfänger auf der eigenen Warteliste passt, in dem der Spender verstarb. Wenn es dort keinen passenden Empfänger gab, wurden andere Spitäler nach möglichen Empfängerinnen und Empfängern angefragt. In einem komplexen Verfahren sind die Spenderorgane auf nationaler Ebene verteilt worden. Massgebend beim Entscheid, wer das Organ erhält, war das multidisziplinäre Team, das den Organspender behandelt hatte.

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In welchen Fällen darf ein ausländischer Patient auf die Liste genommen werden?
Eine ausländische Patientin oder ein ausländischer Patient geniesst nur dann Priorität, wenn er oder sie im Status «Urgent» ist, also in einem lebensbedrohlichen Zustand, und nicht mehr transportfähig. Sonst hat er oder sie als «Non-resident» kaum Chancen auf eine Organzuteilung. Ausser das Organ ist von tieferer Qualität, so dass es für Schweizerinnen, Grenzgänger oder Bürger des Fürstentum Liechtensteins nicht in Frage käme.


Gemäss den Recherchen des Westschweizer Portals «Heidi News» soll Philippe Morel Organtransplantation Ein Skandal – oder eine Intrige? mehrfach insistiert haben, seinen ausländischen Patienten auf die Warteliste setzen zu können. Hat Swisstransplant ihm diese Erlaubnis erteilt?
Eine Aussage ist mir hier aufgrund des Amtsgeheimnisses verwehrt. Damals galt kantonales Recht. Die Aufnahme auf die Warteliste erfolgte auf Antrag des Spitals, das den Patienten behandelte, der ein Organ benötigte. Das ist auch heute mit dem nationalen Gesetz so. Und der Entscheid, ein Spenderorgan anzunehmen und zu transplantieren, liegt im Ermessen der Spezialistinnen und Spezialisten.

Zur Person

Franz Immer, 55, ist ein Schweizer Herz- und Gefässchirurg und Direktor der Stiftung Swisstransplant. Er engagiert sich in verschiedenen internationalen Gremien zur Organspende und Transplantation. Seit April 2020 ist er Präsident von FOEDUS (Facilitating Exchange of Organs Donated in EU Members States). Die Plattform FOEDUS-EOEO verwaltet den grenzüberschreitenden Organaustausch und erleichtert somit allen Mitgliedstaaten in Europa die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Organspende. Als Direktor der Stiftung Swisstransplant forscht Franz Immer auf dem Gebiet der Organspende und -transplantation und publiziert zu Themen der Transplantationsmedizin.

Welche Rolle hatte Swisstransplant 2006 bei diesen Entscheiden?
Swisstransplant hat die Statistik geführt und koordiniert, welches Spital allenfalls einen passenden Empfänger hätte. Wir hatten den Überblick, wer als Nächstes auf der Warteliste steht, wenn das erste Spital das Organ nicht brauchen konnte. Aber ob eine Spenderleber nach Bern, Zürich oder Genf gehen soll, haben die Spitäler untereinander ausgehandelt. Danach wurde im Spital entschieden, an welche Patientin oder welchen Patienten das Organ transplantiert werden soll.


Wie ist das heute?
Es gibt klare Regeln, nach welchen Kriterien die Spenderorgane schweizweit zugeteilt werden. Je nach Organ ist das anders. So stehen Lebern in erster Priorität Patientinnen und Patienten zu, deren Leben ohne Transplantation unmittelbar bedroht ist.
 

Es gab 2006 eine Untersuchung von Swisstransplant zum Fall Philippe Morel. Warum, wenn die Organisation nicht in die Entscheide involviert war?
Dazu steht mir aus juristischen Gründen keine Auskunft zu. Dieser Entscheid wurde von unserem Stiftungsrat gefällt, auch zum Schutz der involvierten Patientinnen und Patienten. Die letzten paar Tage waren belastend für uns. In den letzten drei Monaten sind so viele Menschen auf der Warteliste gestorben wie noch nie. Das Publikwerden dieses Falles schadet der Transplantationsmedizin enorm. Und es ist sehr traurig für die Familie des Organspenders, der so identifizierbar ist.
 

Das beantwortet die Frage nicht, warum Swisstransplant eine Untersuchung eingeleitet hat. Die Antwort ist aber wichtig, um zu verstehen, was damals passiert ist.
Es ist ganz klar nicht in Ordnung, dass die sensiblen Daten zu diesem Fall an die Öffentlichkeit gelangt sind. Diese Indiskretion muss in naher Zukunft aufgearbeitet werden. Es gab damals Organexpertengruppen bei Swisstransplant, die im Vorfeld des nationalen Transplantationsgesetzes den Bund zu Verordnungen beraten haben. Dabei ging es auch um die Zuteilungskriterien der Organe.


Und die Organexpertengruppe war in die Untersuchung des Falles involviert?
Nein, das kann man so nicht sagen.


Sie weichen aus. Über mögliches Fehlverhalten der beteiligten Ärzte muss aber geredet werden.
Das ist richtig. Wir haben uns daher entschieden, so viel Transparenz wie möglich zu schaffen, unter Wahrung des Daten- und Persönlichkeitsschutzes und des Arztgeheimnisses: Die Transplantation war medizinisch sinnvoll und nachvollziehbar, bei der Kommunikation zwischen den Fachpersonen sind aber Fehler passiert. Und wir halten klar fest, dass sich der Fall vor dem Inkrafttreten des nationalen Transplantationsgesetzes ereignet hat. Heute könnte er so nicht mehr passieren.


So wie Sie das sagen, klingt es fast harmlos. Gemäss der Recherche von «Heidi News» soll sich Herr Morel aber mehrfach über geltende Regeln hinweggesetzt haben. Heute wird der Vorfall von Ihnen lediglich als kommunikatives Fehlverhalten taxiert. Ist das angemessen, wenn der Schweizer Patient gestorben ist?
Medizinisch wurde der Entscheid als richtig eingestuft, so die Einschätzung des untersuchenden Expertengremiums. Aus juristischen Gründen kann ich mich nicht dazu äussern.


Ihr Hinweis, die Transplantation sei «medizinisch sinnvoll» gewesen, soll in Fachkreisen für Empörung gesorgt haben.
Eine Ombudsstelle ist zu diesem Schluss gekommen. Diesem Gremium gehören auch Medizinerinnen und Mediziner an.


Philippe Morel war zum Zeitpunkt der Untersuchung Vizepräsident von Swisstransplant. Trat er für die Untersuchung in Ausstand?
Selbstverständlich war er nicht Teil der Expertengruppe.


Wäre der ausländische Patient gestorben, wenn man ihm die Leber nicht transplantiert hätte?
Darauf kann ich aus juristischen Gründen nicht eingehen.


Welche Konsequenzen könnte der Fall heute für Herrn Morel noch haben?
Ich bin kein Jurist, mögliche Tatbestände könnten nach 17 Jahren verjährt sein.


Gibt es eine rechtliche Handhabe bei mutmasslichen Fehlentscheiden im Zusammenhang mit Organtransplantationen?
Ja. Im Transplantationsgesetz sind die Regeln klar definiert. Unsere Arbeit ist seit dem 1. Juli 2007 unter der Kontrolle des Bundesamtes für Gesundheit. Bei jedem Organangebot wird geprüft, ob das Gesetz eingehalten wurde. Ein Verstoss gegen diese Regeln, etwa die Zuteilungsregel, ist strafbar. Spitäler und Ärztinnen müssen jeden Schritt lückenlos dokumentieren. Bis jetzt ist es noch nie zu einem Gerichtsfall gekommen.


Befürchten Sie, dass wegen der Diskussionen um den Fall nun die Spendenbereitschaft sinkt?
In einem System, wo Vertrauen einer der grundlegendsten Pfeiler ist, sorgt ein solcher Fall für grosse Verunsicherung. Es schadet den Menschen auf der Warteliste, die dringend auf ein Spenderorgan angewiesen sind. Das ist etwas, was in den nächsten Wochen und Monaten häufiger stattfinden wird aufgrund dieser Indiskretionen.


Warum wurde der Vorfall jetzt öffentlich?
Wir befinden uns zwei Wochen vor dem zweiten Wahlgang zu den Staatsratswahlen. Das ist vermutlich kein Zufall.


Für Sie handelt es sich hier um ein Hickhack zwischen rivalisierenden Transplantationsmedizinern?
Vielleicht auch zwischen zwei politischen Parteien. Da wird ein Fall instrumentalisiert und missbraucht, der 17 Jahre her ist und heute im Zug des nationalen Transplantationsgesetzes nicht mehr möglich ist. Das ist das Betrüblichste an der Sache. Für mich als Arzt und Mensch ist es sehr enttäuschend, wenn sich jemand zulasten der Schwächsten profilieren will – nämlich der rund 1500 Menschen auf der Warteliste, die dringend ein Spenderorgan brauchen.


Der Fall wirft einen Schatten auf die Person Philippe Morel. Wie haben Sie ihn erlebt?
Herr Morel hat die Viszeralchirurgie an einem der grössten Universitätsspitälern während Jahrzehnten geleitet und ist einer der führenden Transplantationschirurgen in Europa. Das sind nicht Leute, die in der Ecke sitzen und nichts sagen. Sie sind sich gewohnt, Entscheide zu fällen. Das braucht es, um Menschen das Leben zu retten. So habe ich Herrn Morel immer erlebt, dass dies eines seiner Hauptanliegen ist. Ich bin selbst Chirurg und hatte immer wieder Chefs, die mutige Entscheide fällen mussten – zugunsten der Patientinnen und Patienten. Das zeichnet auch die Qualität der Medizin aus.