Viktor (20) lernt laufen
Eine Schweizer Erfindung macht Menschen mit Bewegungsstörungen mobil. Wie der 20-jährige Viktor mit Hilfe des Physio-Roboters «Lokomat» mehr Kontrolle über seine Beine gewonnen hat.
Veröffentlicht am 15. Januar 2021 - 15:42 Uhr
«Er war steif wie ein Brett. Nun geht er wieder. Auf Krücken. Aber er geht», sagt die Mutter über Viktor, ihren Sohn. Fünfmal die Woche fährt sie ihn ins «Paradies auf Erden». Das sind 100 Kilometer und 600 Meter von Tür zu Tür. Pro Weg. «Aber es lohnt sich.»
Mutter und Sohn leben in Basel. Das «Paradies» liegt in Volketswil bei Zürich, an der Fortsetzung der Umfahrungsstrasse. Es ist ein Gym für Menschen, die sich ohne Hilfe kaum auf den Füssen halten können oder zögerlich bewegen. Wegen eines Schlaganfalls, wegen Parkinson, wegen Multipler Sklerose. Oder wegen Spastik, wie Viktor.
Kurz vor seinem ersten Geburtstag holte sich Viktor einen Schnupfen. Die Viren fanden den Weg in sein Rückenmark. Sie lähmten den Bub. Fürs Leben. Letzten Mai wurde Viktor 20.
Eine Premiere
Das Gym heisst Revigo und ist das erste Schweizer Robotik-Fitnesszentrum für Leute mit neurologischen Bewegungsstörungen. Es belegt die Ecke eines Industriegebäudes. Dessen Fassade ist so hell wie Viktor. Der junge Mann studiert Jus. Er ist gerade eingespannt in eine Maschine namens Lokomat. Zusammengesetzt aus Lokomotive und Automat.
Der Lokomat ist ein Roboter. Ein Physio-Roboter. Er bewegt Viktors Beine, stabilisiert seine Hüften, korrigiert und kontrolliert seine Knie und seinen Gang, die Länge und die Frequenz seiner Schritte. Wenn Viktor stolpert, stoppt der Roboter sofort. Umfallen kann Viktor nicht, er hängt in den Gurten. Vorne sieht Viktor auf dem Bildschirm Schritt für Schritt, wie präzise er sich bewegt. Grün ist gut, gelb ist abweichend, rot ist stark abweichend.
Auf dem zweiten Bildschirm programmiert Zentrumsleiter Dino De Bon Viktors Gang. «Was meinst du? Sollen wir links noch etwas mehr fixieren?» Typischerweise drehen sich die Knie eines von Spastik Betroffenen nach innen. De Bon korrigiert den x-beinigen Gang, Schnelligkeit und Länge der Schritte auf dem Laufband. «Wir sind jetzt bei zwei Kilometern pro Stunde.» Die farbigen Schleifen auf dem Bildschirm zeigen Viktor, dass er fast auf der Ideallinie geht.
«Roboten» gibt Muskelkater
Etwas anderes kann der Lokomat auch noch: Viktor die Unterstützung entziehen. Dann fällt dem jungen Mann das Gehen stufenweise schwerer. Wenn ihm das eigene Gewicht mehr und mehr auf die Füsse drückt, schnauft er fast so laut, wie der Lokomat pumpt. Ohne Roboter schaffte Viktor beim ersten Gehtest mit Krücken in sechs Minuten 320 Meter. Ein paar Monate darauf waren es 470 Meter. Nach der ersten Stunde im Physio-Roboter meldete sich der Muskelkater.
«Viktor ist ein vergleichsweise leichter Fall», sagt De Bon. Auch was das Gewicht angeht. Schwerfälligere Menschen zu bewegen, ihr Becken und ihre Beine zu heben, ist schweisstreibende Arbeit – am Barren. Ohne Lokomat sind dafür bis zu vier kräftige Therapeuten nötig.
Gefertigt und programmiert wird der Physio-Roboter von Hocoma in Volketswil. Gym und Werkstatt teilen sich die Kaffeeküche; wenn ein Problem auftaucht, ist gleich ein Mann im Übergwändli zur Stelle. Zudem arbeitet Hocoma eng mit der Thurgauer Rehaklinik Zihlschlacht zusammen. Sie betreibt das grösste roboterassistierte Bewegungszentrum Europas.
«Der Roboter misst, was ein Patient kann, und er ergänzt und unterstützt, wo nötig.»
Daniel Zutter, Chefarzt Neurologie
«Die Robotik hat uns wahnsinnig viel geholfen», sagt Daniel Zutter, Chefarzt Neurologie in Zihlschlacht. «Nervenzellen erholen sich nicht, sie können sich nicht teilen. Aber durch intensives Üben kann das Hirn ein Leben lang lernen. Der Roboter misst, was ein Patient kann, und er ergänzt und unterstützt, wo nötig. Sonst sagt das Hirn: Komm, Arm, beweg dich! Und wenn es dann lernt, dass es nichts bringt, schaltet es den neuronalen Schaltkreis ab.»
Vielseitige Vorteile
Zutter schätzt den Laborcharakter des Gym. «Es ist eine Win-win-Situation. Wir haben die neusten Geräte zu günstigen Konditionen, der Hersteller sammelt Erfahrungen, und der Patient zahlt fürs Abo im Monat pauschal 845 Franken. Er kann so lange draufbleiben, wie er will. Die ein, zwei Einheiten Physiotherapie pro Woche, die der Arzt verordnet, sind bei neurologischen Patienten oft zu wenig.»
«845 Franken im Monat sind erträglich», sagt Viktor Niederberger. Bis zu seinem 20. Geburtstag übernahm die Invalidenversicherung die Kosten. Und danach?
Der Übergang von der IV zur Krankenkasse gilt als heikel, die Kostengutsprachen sind ein leidiges Thema. Denn oft finden sich neue Ansätze in der Medizin wie der Physio-Roboter nicht in den Verordnungen der Tarife. Manche Kassen zahlen, obwohl sie nicht müssten. Oder sie zahlen eben nicht. Das Abo in Volketswil ist ein Novum. Es wird von den Kassen nicht übernommen.
Was ist die Lösung für Menschen wie Viktor? Ein Leben lang Therapie? «Ja, das ist im Einzelfall gerechtfertigt, um jemanden selbständig zu erhalten. Auch wenn er keine Fortschritte macht, aber autonom leben kann. Dann soll der Grundversicherer das übernehmen», sagt Cornelia Furrer, stellvertretende Geschäftsführerin des Verbands Physioswiss. «Das kann teuer sein. Ohne Therapie wären die Konsequenzen aber noch teurer.»
Auf dem Vormarsch
Anfänglich stiessen die Roboter auf Skepsis. Die Akzeptanz ist aber gestiegen. «Was Fortschritt bringt, ist gut», sagt Cornelia Furrer. Ein Lokomat kostet um die 200'000 Franken. «Eine Privatpraxis kann sich dieses Gerät nicht leisten.»
Der tausendste Lokomat wurde ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil geliefert. Dort ist er einer von neun Physio-Robotern, fünf davon für Arme und Hände, vier für Beine und Rumpf. Ob die Roboter anderen Therapieformen überlegen sind, ist wissenschaftlich kontrovers. «Unsere Erfahrungen sind aber gut, und die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten ist sehr hoch», sagt Pirmin Oberson, Co-Leiter des Nottwiler Therapiemanagements.
Viktor Niederberger bestätigt das. «Ich spüre einen grossen Unterschied. Meine Muskeln haben Spannung gewonnen. Ich habe mehr Kontrolle, die Beine gehorchen mir.» Und sie tragen ihn manchmal auch zum Bahnhof, zum Zug nach Zürich. Zu seinem älteren Bruder.