Weshalb Omikron die Pandemie beenden könnte
Kann ausgerechnet die hochansteckende Omikron-Variante des Coronavirus das Ende der Pandemie näherbringen? Hinweise in den letzten Tagen und Wochen geben Anlass für vorsichtigen Optimismus. Doch es sind noch einige Hürden zu bewältigen.
Veröffentlicht am 6. Januar 2022 - 17:30 Uhr
Immer wieder neue Varianten von Sars-CoV-2 – endet diese Pandemie nie?, fragen sich viele angesichts von Omikron. Das mutierte Virus hat in wenigen Wochen die Zahl der Infektionen nach oben schnellen lassen. Aus heutiger Sicht scheint es aber sehr wahrscheinlich, dass es ausgerechnet Omikron sein wird, das zum baldigen Ende der Pandemie beitragen wird: weil Omikron sehr ansteckend ist.
In den USA nahm die Variante so schnell überhand, dass Tom Frieden, der ehemalige Chef der US-Seuchenbehörde CDC, Ende Dezember twitterte: «Ich habe mich 30 Jahre mit Ausbrüchen von Infektionskrankheiten beschäftigt. Niemals hat sich etwas so schnell ausgebreitet wie Omikron.»
Das Virus ist offensichtlich sehr viel leichter übertragbar als die Delta-Variante. «Es hat ausserdem sehr viele Mutationen im Spike-Protein, dank deren es Antikörpern entgehen kann. Dadurch werden Infektionen von Geimpften und Genesenen wahrscheinlicher», sagt Christian Münz, Professor für virale Immunbiologie an der Uni Zürich.
Stetig besserer Schutz
Doch das ist kein Grund zum Schwarzsehen. Das Immunsystem ist nicht wehrlos. Selbst wenn Antikörper nicht mehr nachweisbar sind, bilden sich durch die Impfung oder eine Infektion T-Gedächtniszellen, die meistens vor schweren Krankheitsverläufen schützen. Bei Älteren funktioniert dieser Schutz jedoch weniger gut. Aber: Je öfter der Körper durch Impfung oder Infektion mit dem Oberflächenprotein von Sars-CoV-2 konfrontiert war, desto besser die Immunität. «Jedes Mal schaukelt sich die Immunantwort weiter hoch», sagt Christian Münz.
Am höchsten ist die Antikörperkonzentration im Blut ein bis zwei Wochen nach Infektion oder Impfung. Danach fällt sie ab. Weil sie aber nach jeder Konfrontation von einem höheren Ausgangswert absinkt, wird der Schutz immer besser – und hält auch länger. Das gelte besonders für die dritte Impfung, ist Münz überzeugt. «Nach dem Booster liegt die Antikörperkonzentration durchschnittlich zehnmal so hoch wie nach der zweiten Impfung. Vielleicht kann die Booster-Kampagne einen Teil der Omikron-Infektionen verhindern.»
Bei Menschen ohne Drittimpfung, die sich nicht abschotten wollen oder können, wird das Virus wohl das Boostern erledigen. Besonders für Ältere kann das gefährlich werden. «Wenn eine erneute Infektion in einer Phase geschieht, in der die Antikörperspiegel noch hoch sind, verläuft sie dagegen mild», sagt Münz. Studien deuten darauf hin, dass die Antikörperspiegel durch eine Ansteckung bei Geimpften sogar noch viel stärker steigen als nach dem Boostern. Und zwar auf ein drei- bis fünfmal so hohes Niveau. Besonders der Schutz auf den Schleimhäuten, also im oberen Rachenraum, wird besser.
Vorsichtig optimistisch
Wenn durch Impfungen und Infektionen in der Bevölkerung eine Grundimmunität entsteht, könnte sich eine Situation ergeben, wie sie bei den Coronaviren gilt, die schon lange in Mitteleuropa zirkulieren. «Alle zwei bis drei Jahre stecken wir uns mit ihnen an und sind danach wieder eine Weile geschützt», sagt Richard Neher. Er ist Professor am Biozentrum Basel und erforscht und modelliert die Evolution von Viren. Die heimischen Coronaviren lösen dann nur noch Erkältungskrankheiten aus. Denn das Immunsystem hat sich durch die ständige Konfrontation auf sie eingestellt.
Viren werden aber nicht von selbst harmloser. «Natürlich hilft es keinem Virus, wenn es seinen Wirt blitzschnell umbringt. Aber es nützt ihm, wenn es dem Immunsystem entkommen oder sich auf andere Art besser übertragen kann, zum Beispiel durch eine höhere Viruslast», sagt Neher. Beides sei bei Sars-CoV-2 wiederholt passiert. Die Krankheitsverläufe sind mit den neuen Varianten aber nicht milder, sondern immer etwas schwerer geworden.
In den letzten Wochen und Tagen gab es jedoch immer mehr vorsichtige Hinweise, dass das bei Omikron anders sein könnte. Mehrere Studien zeigen, dass Omikron Lungenzellen schlechter infizieren kann als vorherige Sars-CoV-2-Varianten. Die Belege stammen allerdings aus Experimenten in Zellkulturen und bei Hamstern – und nicht bei Menschen. Epidemiologische Studien aus Südafrika und Grossbritannien deuten dazu passend auf leichtere Krankheitsverläufe bei Omikron hin. Hinzu kommt: In Südafrika war ein Grossteil der Bevölkerung wahrscheinlich schon mit Sars-CoV-2 infiziert gewesen. Auch in Grossbritannien hatten sich sehr viele Menschen in vorherigen Wellen infiziert; zudem ist die Impfquote unter den Älteren sehr hoch.
«In diesen Ländern gibt es eine Grundimmunität, auf die wir in der Schweiz nicht bauen können», sagt Neher. Zu viele Menschen seien weder geimpft noch genesen. Wie andere Experten erwartet er einen harten Winter, bevor sich im Frühling die Lage entspannen dürfte. «Wir kennen Sars-CoV-2 mittlerweile und wissen, dass es im Sommer eher keine grossen Infektionswellen gibt», sagt Neher. Zudem schreitet die Booster-Kampagne fort. Die Drittimpfung verhindert, gerade wenn sie noch frisch ist, 70 bis 80 Prozent der Omikron-Infektionen.
Doch weil Omikron sehr ansteckend ist, werde mit der Zeit auch die Wirkung des Boosters nachlassen. «Gut möglich, dass wir deshalb alle im Lauf des neuen Jahres infiziert werden», sagt Münz. Bei jenen, die dreimal geimpft und relativ jung sind, werde das «ein natürlicher Booster mit höchstens Erkältungssymptomen sein».
Harte Zeiten für Ungeimpfte
Sehr viele Ungeimpfte dürften sich nun mit Omikron infizieren, erwartet Münz. Denn: «Wer noch nicht geimpft ist, agiert oft nicht so vorsichtig, dass Infektionen vermieden werden.» Ungeimpfte hätten ein höheres Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs. Wenn sie sich anstecken, werden sie aber auch dazu beitragen, dass die ganze Bevölkerung immunisiert ist.
«Wahrscheinlich steuern wir auf eine Situation wie bei der Influenza zu: Winterwellen, in denen es viele milde, aber auch einige schwere Krankheitsverläufe geben wird», vermutet Neher. Es sei plausibel, dass sich Risikopersonen dann jährlich impfen lassen müssten, wie bei der Grippe. Das erwartet auch Münz: «Es ist denkbar, dass wir Immungeschwächten und Menschen über 60 weiterhin im Herbst eine Impfung anbieten.»
Dann wäre der Übergang von der Pandemie zur Endemie geschafft. Ob diese Situation bereits in einem Jahr eintreten wird, wagen die beiden Wissenschaftler aber nicht vorherzusagen. Nicht zuletzt die Ungeimpften könnten dazu beitragen, dass die Krise verlängert wird. Falls gleichzeitig zu viele Menschen erkranken und das Gesundheitssystem an Grenzen kommt, werden strenge Massnahmen bald unausweichlich. Dann könnte im nächsten Winter der Immunitätswall nicht hoch genug sein, und es könnten wieder härtere Massnahmen nötig werden.
Und was, wenn wieder eine neue Variante auftritt? «Eine komplette Immunflucht ist unwahrscheinlich», sagt Neher. «Nur schon weil T-Zellen Regionen im gesamten Spike-Protein erkennen, nicht nur an der Oberfläche.» Aktuelle Daten aus Grossbritannien sprechen dafür, dass dies weiter gelten wird. Omikron hat 34 Veränderungen im Spike-Protein gegenüber dem ursprünglichen Sars-CoV-2 und gilt damit als sehr stark mutiert. Trotzdem schützt eine vorherige Infektion noch zu 55 bis 70 Prozent vor einem Spitalaufenthalt – und eine Dreifachimpfung, die gegen das ursprüngliche Virus entwickelt wurde, verhindert sogar noch zu 70 bis 80 Prozent eine symptomatische Infektion mit Omikron.
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