Immer und überall lauert der grosse Schlaf
In der Schweiz leiden gegen 7000 Menschen an einem gestörten Rhythmus zwischen Schlafen und Wachen. Sie brauchen tagsüber mehrere Ruhepausen und Kraft, um den plötzlich auftretenden Schlafattacken zu widerstehen.
Veröffentlicht am 6. November 2001 - 00:00 Uhr
Wie oft wachte ich mit dem Kopf im Suppenteller auf, und die Kollegen um mich herum lachten schallend», erzählt Claus Bleicker (Bild) kopfschüttelnd. Bis er einmal herausfand, «dass ich es schaffte, wach zu bleiben, wenn ich stehend ass». Mit Tricks wie diesem habe er es über Jahre hinweg geschafft, ein mehr oder weniger normales Leben zu führen, dabei aber immer geahnt, dass etwas mit ihm nicht stimme. Niemandem sonst passierten so seltsame Vorfälle. Wie damals, als er sich mit 19 im Tanzkurs befand, mit seiner Angebeteten Walzer übte und nach dem immer währenden Eins-zwei-drei, Eins-zwei-drei, Eins-zwei-drei irgendwann glücklich feststellte, dass er es begriffen hatte – und in ebendiesem Moment der Freude in sich zusammensackte und die Tanzpartnerin mit sich zu Boden riss.
Mehrfach hatte er während der vergangenen 40 Jahre seinen wechselnden Hausärzten von den seltsamen Erlebnissen erzählt, dabei aber immer wieder nur eines gehört: «Überarbeitung, Stress – schauen Sie, dass Sie etwas mehr schlafen, nehmen Sie Vitamine zu sich.»
Vor vier Jahren kam es zum grossen Eklat: Er hätte für einen Arbeitskollegen ein paar Minuten lang eine Maschine überwachen und in einem bestimmten Moment abstellen sollen. Voll konzentriert stand er da, bereit, auf den roten Knopf zu drücken. Und dann schaffte er es doch nicht, seinem unbändigen Schlafbedürfnis zu widerstehen. Sachschaden: 60000 Franken.
Johannes Mathis, leitender Arzt an der Neurologischen Universitätsklinik des Inselspitals Bern, stellte dann ein paar Tage später die Diagnose: Narkolepsie. Man schätzt, dass etwa eine unter tausend Personen an dieser Störung der «Schlaf-Wach-Struktur» leidet. In unserem Land sind das rund 7000 Menschen. Was zahlenmässig etwa gleich viele sind wie die an multipler Sklerose Erkrankten. Trotzdem ist die Krankheit bis jetzt in breiten Kreisen noch kaum bekannt und wird, wie Bleickers Beispiel beweist, von den Ärzten oft nicht einmal erkannt.
Im Unterschied zum besser bekannten Schlaf-Apnoe-Syndrom (mit Schnarchen und Atempausen im Schlaf) kommen bei der Narkolepsie zur Tagesmüdigkeit noch andere Symptome hinzu. Die beschriebene plötzliche Muskelschwäche bei starken Gefühlsregungen beispielsweise, in der Fachsprache Kataplexie genannt. Ebenso leiden die Betroffenen sehr oft unter Halluzinationen beziehungsweise Horror-Wachträumen kurz vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen.
Während das Apnoe-Syndrom vorwiegend bei älteren oder übergewichtigen Männern auftritt, beginnt die Krankheit bei den Narkoleptikern meist schon im Alter von 15 bis 25 Jahren. Die Narkolepsie ist bis jetzt nicht heilbar, doch bei angepasster Lebensweise und medikamentöser Behandlung kann die Lebensqualität erheblich verbessert werden.
Hauptziel der Therapie ist es, dass die Betroffenen ihren Job behalten können. Dies ist oft möglich, wenn die Betroffenen in regelmässigen Abständen ein Nickerchen machen können. Claus Bleicker war während der Jahre seines Leidens selbst auf diesen Trick gekommen: Während der Neun-Uhr-Pause verzichtete er auf den Kaffee, versteckte sich in einer dunklen Ecke und döste 15 Minuten – sorgfältig überwacht durch den Wecker auf seiner Armbanduhr. So schaffte er es bis 12 Uhr; nach dem Abtauchen am Mittag überstand er anschliessend die zwei Stunden bis zur Nachmittagspause und so weiter.
Gemäss neueren Forschungen wäre das Nickerchen unter dem Bürotisch nicht nur für die Narkoleptiker von Vorteil: In Managerkreisen wird mehr und mehr erkannt, dass selbst ein 17-Stunden-Tag bewältigt werden kann, wenn zwischendurch ein so genannter Power-Nap eingeschaltet wird.
In unserer auf Leistung und Vergnügen ausgerichteten Gesellschaft kommt der Schlaf viel zu kurz. Tagesschläfrigkeit gilt als eine der Hauptursachen bei tödlichen Verkehrsunfällen, ebenso waren zahlreiche andere Katastrophen auf Übermüdung zurückzuführen: die Megaunfälle im Kernkraftwerk Tschernobyl etwa, das Chemieunglück in Bhopal oder der Tankerunfall der Exxon Valdez.
Es ist klar, dass das Unfallrisiko für Narkoleptiker oder Menschen mit dem Schlaf-Apnoe-Syndrom höher ist als für ausgeschlafene gesunde Personen. Trotzdem gibt es in unserem Land bislang kein Gesetz, dass Narkoleptikern verbietet, ein Auto zu lenken. «Zu Recht», findet Johannes Mathis, «denn die Frage der Fahrtauglichkeit hängt weniger von der Etikette einer Diagnose ab als vielmehr davon, wie gut sich die Schläfrigkeit behandeln lässt und ob der Patient damit umgehen kann.» Immerhin kündigt sich die Schläfrigkeit vorher an und tritt nicht unerwartet wie ein epileptischer Anfall auf.
In der Regel sind die Krankheitssymptome auch nicht so stark ausgeprägt wie bei Claus Bleicker, der oft von einem Moment auf den anderen vom Schlaf übermannt wird – es sei denn, er nehme entsprechende Medikamente. Er verzichtet deshalb freiwillig aufs Fahren.
Obwohl Claus Bleicker und seine ähnlich betroffenen Leidensgenossen den Tag nicht ohne die regelmässigen Schlafpausen überstehen, ist es nicht so, dass sie insgesamt mehr schlafen als andere Menschen: Sie liegen sehr oft nachts wach. «Das ist ja gerade das Schlimme», klagt Bleicker. Jahrelang habe er nachts einen Rhythmus von zehn Minuten Schlaf und zehn Minuten Wachzustand gehabt. «Dass man auf diese Weise am Morgen nicht ausgeruht aufsteht, kann sich wohl jeder vorstellen.» Dank den Medikamenten bringt er es nun immerhin zu Schlaf-Wach-Einheiten von eineinhalb Stunden, so dass der Tag etwas besser zu bewältigen ist.
Die genaue Ursache der Narkolepsie ist trotz intensiver Forschung noch unbekannt. Es wird eine Veranlagung vermutet, die aber allein noch nicht genügt, damit die Krankheit ausbricht. Neuere Ergebnisse zeigen, dass bei vielen Betroffenen der Hirnbotenstoff Hypokretin in bestimmten Hirnzentren zu wenig gebildet wird.
Claus Bleickers Störungen haben mit dem Alter immer mehr zugenommen, so dass er heute nicht mehr arbeitsfähig ist und die meisten seiner früheren Hobbys aufgeben musste: Beim Schiessen landete ein Schuss in der Diele statt auf der Scheibe, weil er mit der Hand am Abzug eingeschlafen war. Und bei einem Konzert der Dorfmusik sackte er plötzlich in sich zusammen, weil er sich beim Musizieren offenbar zu glücklich gefühlt hatte.
Narkolepsie ist eine Krankheit, die die Betroffenen auch psychisch auf eine harte Probe stellt. «Ich habe volle zwei Jahre gebraucht, um die Situation zu akzeptieren», gesteht Bleicker. «Aber heute weiss ich, dass es nicht möglich ist, die Krankheit zu kontrollieren, sondern dass sie mich im Griff hat. Seit ich dies begriffen habe und mein Leben der Krankheit angepasst habe, geht es mir gut.» Auf Aktivitäten in der Natur verzichtet Claus Bleicker deshalb weitgehend – dafür frönt er zu Hause dem Modellbau und dem Malen.