Warum sich der «trockene Januar» nicht für alle eignet
Immer mehr Leute machen einen Dry January und verzichten für 31 Tage komplett auf Alkohol. Das ist nicht ganz ungefährlich und letztlich wenig nachhaltig.
Veröffentlicht am 20. Dezember 2022 - 17:21 Uhr
Weihnachtsmarkt und kalte Füsse, da hilft nur: Glühwein. Und wer mag schon plaudern beim Firmenapéro ohne ein paar Gläschen Prosecco? So geht es vielen im Dezember . Man schleppt sich von Anlass zu Anlass und trinkt mehr Alkohol als sonst.
Dabei steht das grosse Familienfest noch bevor, von Silvester gar nicht zu reden. Macht nichts, sagen sich einige, bald kommt der trockene Januar. Die Idee stammt aus dem hohen Norden und ist nicht neu. Finninnen und Finnen pflegten die neujährliche Abstinenz während des Zweiten Weltkriegs. Populär wurde der Dry January, als die britische Wohltätigkeitsorganisation Alcohol Change UK zum Mitmachen aufforderte. Das war vor zehn Jahren. Seither machen immer mehr mit: 2020 waren es 3,9 Millionen Britinnen und Briten, 2021 bereits 6,5 Millionen. Wie viele durchhalten, ist nicht bekannt. Der Trend ist auch in die Schweiz geschwappt. Hier registrieren sich jeweils Tausende auf der offiziellen Website www.dryjanuary.ch, deren Hauptsponsor das Bundesamt für Gesundheit ist.
Ohne Alkohol besser schlafen
Es hat viele positive Effekte, wenn man keinen Alkohol trinkt. Einzelne Laborwerte verbessern sich schon nach kurzer Zeit, besonders jene der Leberenzyme.
Die meisten «Trockenen» haben im Januar mehr Energie und schlafen besser. Einige können konzentrierter arbeiten, andere haben eine frischere und glattere Haut. Zudem hat man einen Monat lang Zeit, seinen Alkoholkonsum zu überdenken . «Viele stellen fest, dass sie auch ohne Alkohol gut leben und Spass haben können», sagt Philip Bruggmann, Co-Chefarzt Innere Medizin am Arud-Zentrum für Suchtmedizin in Zürich.
«Die Leute merken häufig erst, dass sie ein Problem mit dem Trinken haben, wenn sie die Grenze zum zwanghaften Verhalten überschreiten.»
John Kelly, Suchtmediziner, Harvard Medical School
Andere merken im Dry January, dass ihr Umgang mit Alkohol bereits bedenklich ist. Etwa wenn sie ohne das eine oder andere Glas Wein nicht abschalten oder sich entspannen können.
Jede fünfte Person in der Schweiz trinkt zu viel, heisst es beim Bundesamt für Gesundheit: «Die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieses Konsums sind beträchtlich.» Darum setzt das Amt auf Sensibilisierung und Prävention und führt zusammen mit dem Blauen Kreuz Schweiz den Dry January 2023 durch.
Gesunde schätzen ihren Alkoholkonsum falsch ein
Ohne Hilfestellungen wie den Dry January sind die meisten nicht gut darin, ihre Beziehung zum Alkohol kritisch zu überdenken. «Die Leute merken häufig erst, dass sie ein Problem mit dem Trinken haben, wenn sie die Grenze zum zwanghaften Verhalten überschreiten», sagt John Kelly, Suchtmediziner an der Harvard Medical School.
Doch der trockene Januar birgt auch Risiken: Menschen mit einer gesunden Beziehung zum Alkohol könnten nach einem gelungenen Dry January die Gefahren des Trinkens unter- und ihre Kontrolle über die Gewohnheit überschätzen. «Das führt im schlimmsten Fall zu einem stärkeren Konsum», warnt Kelly.
Was, wie viel und wie schnell man trinkt, das Geschlecht und wie gross und schwer jemand ist: All diese Faktoren entscheiden, ob man sich noch ans Steuer setzen sollte oder nicht. Berechnen Sie selbst, wie hoch Ihr Blutalkohol ist – im Promille-Rechner des Beobachters.
Abhängige können ohne Alkohol depressiv werden
Und wer bereits abhängig ist von Alkohol, kann Entzugserscheinungen bekommen, wenn er plötzlich verzichtet. Milde Symptome wie Übelkeit oder anhaltende Kopfschmerzen können bereits in den ersten Januartagen einsetzen.
Doch Fachleute warnen auch vor heftigen Folgen wie Depressionen, Halluzinationen und Angstzuständen. Ausserdem können plötzliche Krämpfe auftreten – das ist etwa im Strassenverkehr lebensgefährlich. Deshalb ist der Dry January nicht pauschal für alle zu empfehlen. Und: Grundsätzlich sollte beim Autofahren auf Alkohol verzichtet werden.
Dry January nur mit ärztlicher Hilfe
Auch Alcohol Change UK warnt: Wer mehr als 35 Alkoholeinheiten pro Woche konsumiert, also etwa zwölf grosse Gläser Wein, sollte nicht am Dry January teilnehmen.
Philip Bruggmann vom Zentrum für Suchtmedizin empfiehlt, sich nicht nur an der Anzahl Alkoholeinheiten zu orientieren. Auch bestimmte Verhaltensweisen können auf eine Abhängigkeit hinweisen. Wer etwa immer wieder trinkt, um sich von seinen Gefühlen abzulenken oder Geschehenes zu vergessen, sollte vorsichtig sein. Das gilt auch für die, die immerzu an das nächste Glas denken. Oder in den vorangegangenen Monaten immer grössere Mengen Alkohol zu sich genommen haben.
«Gerade Jüngere sind auf ihre zunehmende Trinkfestigkeit stolz», so Bruggmann. Dabei bedeutet diese Trinkfestigkeit nichts anderes, als dass sich der Körper an immer grössere Mengen eines Gifts gewöhnt und damit ein höheres Risiko für einen problematischen Konsum besteht – oder bereits eine Alkoholabhängigkeit vorliegt.
Kein gutes Zeichen ist es auch, wenn man sich zurückzieht, um zu trinken, oder seinen Alkoholkonsum vor anderen versteckt. Menschen, die sich in diesen Verhaltensweisen wiedererkennen, sollten den Dry January nicht ohne fachliche Abklärung einläuten und bereits im Vorfeld ärztlichen Rat einholen.
Wie nachhaltig ist das? Klar ist: Der Dry January ist zu kurz, um vom Alkohol ganz wegzukommen. Dazu muss man länger durchhalten . Es dauert durchschnittlich 66 Tage, eine alte Gewohnheit durch eine neue, gesunde zu ersetzen. Man ist also am 1. Februar noch keineswegs am Ziel.
Tipps für vernünftigen Alkoholkonsum
- Alkoholfreie Tage einlegen: mindestens drei pro Woche.
- Weniger trinken: Es hilft nicht nur, weniger Gläser zu leeren – sondern auch, Getränke mit weniger Alkohol zu wählen. Und jedes zweite Glas durch eines ohne Alkohol zu ersetzen.
- Überblick gewinnen: Wie viel trinke ich wirklich? Ein Konsumtagebuch hilft, das herauszufinden. Dazu gibt es auch diverse Apps.
- Selbsttest machen: zum Beispiel auf Arud.ch oder Safezone.ch.
- Mit Fachleuten reden: Habe ich den Alkohol im Griff oder eher er mich? Es gibt viele gute Anlaufstellen. Auf Safezone.ch kann man sich auch anonym und kostenlos online beraten lassen. Und findet die kantonalen Anlaufstellen.
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2 Kommentare
Hauptsache dagegen sein oder was negatives finden, so funktionieren heute die sozialen Medien. Dass die positiven Effekte einer 4 wöchigen Abstinenz ist doch unbestritten, dann doch bitte diese Vorteile in den Vordergrund rücken und nicht die paar wenigen Nachteile
Finde ich auch. Die positiven Aspekte überwiegen mit grosser Mehrheit. Die Mehrheit der Teilnehmer profitieren sicher von diesem Monst.