Felix Huber weinte hemmungslos. Es war ein Tag im Jahr 2021. Der Tag, an dem ihm eine Pflegefachfrau in der stationären Entzugsklinik Forel in Ellikon an der Thur ZH seine letzte Oxycodon-Tablette überreichte. «Es fühlte sich an, als wäre ein Familienmitglied gestorben. Die Pille war rund drei Jahre lang eng mit mir verbunden. Ich musste Abschied nehmen», erzählt Huber zwei Jahre später.

Er sitzt an einem Tisch in der Forel-Tagesklinik in Zürich und erinnert sich an den Beginn seiner Sucht: eine Rückenoperation im Jahr 2018 – zwei weitere sollten folgen.

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Nach dem ersten Eingriff, bei dem er künstliche Bandscheiben eingesetzt bekommen hatte, erhielt Huber, der in Wirklichkeit anders heisst, das Opioid Oxycodon. Es zählt zu den starken Schmerzmitteln und besitzt ein grosses Abhängigkeitspotenzial. Aufklärung über das Suchtrisiko? Fehlanzeige. «Der Operateur, mein Hausarzt und der Schmerztherapeut haben mir Oxycodon verschrieben. Wieso hätte ich das hinterfragen sollen?»

Noch kein Boom wie in den USA

Mangelnde Informationen und die lockere Abgabe von starken Opioiden seien zwei Hauptgründe für die Schmerzmittelsucht, erklärt Beat Bosshart. Er ist therapeutischer Leiter der Tagesklinik und begleitet Huber seit seinem Entzug auf dem Weg zurück in den Alltag.

Die Zahlen in der Schweiz sind alarmierend: Zwischen 2013 und 2018 haben die Verschreibungen um gut 42 Prozent zugenommen. Das zeigt eine Untersuchung des Bundesamtes für Gesundheit, in der die vergüteten Bezüge der Krankenkasse Helsana ausgewertet wurden. Und laut einer Studie der Stiftung Sucht Schweiz aus dem Jahr 2016 haben 20 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren schon starke Schmerzmittel eingenommen.

Laut Bosshart dürften diese Zahlen auch heute noch aktuell sein. Die Studie besagt zudem, dass es zwar einen stetigen Anstieg der Verkäufe von Opioiden gibt, ein Boom wie in den Vereinigten Staaten aber nicht auszumachen sei. In den USA führte der Schmerzmittelkonsum zu einer regelrechten Krise mit mehreren Zehntausend Toten jährlich.

Immerhin: Nach einem Entzug ist die Rückfallquote gemäss Bosshart eher tief und eine Opioidsucht im Vergleich zur Alkoholabhängigkeit gut therapierbar. Ein Grund: Die Pillen kann man nicht einfach an der nächsten Tankstelle kaufen, man bekommt sie auf legalem Weg nur gegen Rezept.

Im Spitalbett griff Huber nach der ersten Operation 2018 immer öfter zum Schmerzmittel. Bereits nach wenigen Tagen fühlte er sich merklich schlechter, sobald er die Dosis reduzierte. «Also nahm ich das Medikament weiter.» Ohne zu wissen, dass jede weitere Pille ein Schritt in Richtung Abhängigkeit war.

57-jährig, mit einer erfolgreichen Karriere bei der Bank: Huber verkörpert das Gegenteil des Klischees eines Süchtigen. Dieses sei generell oft unzutreffend und greife zu kurz, sagt Bosshart. Auch äusserlich finden sich bei Huber keine Anhaltspunkte, die auf eine Suchterkrankung schliessen lassen. Zum Gespräch kommt er im eleganten hellbeigen Veston und weissem Hemd. Die schwarzen Haare, bei denen das Weiss die Überhand gewinnt, sitzen perfekt. All das lässt nicht vermuten, welch schweren Weg er hinter sich hat. Auch während der Sucht fiel kaum jemandem etwas auf. «Medikamentenabhängigkeit ist eine stille, fast unsichtbare Sucht», sagt Beat Bosshart. Anders als beim Alkohol, der sich unter anderem aufs Hautbild auswirke.

Aus dem Spital entlassen, stieg Hubers Oxycodon-Konsum laufend an. Ohne Schmerzen zu sitzen, war nicht möglich, also musste die Pille her – um die gewünschte schmerzstillende Wirkung zu erzielen, in immer höheren Dosen (siehe Box «6 Merkmale der Abhängigkeit»). Überall im Haus bunkerte er Pillen. Zudem achtete Huber penibel darauf, immer mindestens drei Packungen auf Vorrat zu haben. Auf dem Höhepunkt der Sucht schluckte er täglich das Fünffache der verschriebenen Menge. An die Tabletten zu kommen, war mit seinen drei Rezepten von verschiedenen Ärzten kein Problem. «Leider ist es meistens so, dass die Krankenkasse nicht nachfragt und die teilweise exorbitanten Bezüge kommentarlos bezahlt», weiss Therapeut Bosshart aus Erfahrung mit anderen Patienten.

In der Entzugsklinik

In Hubers beruflichem Umfeld bemerkte weiterhin niemand, was los war. Mit der Zeit beeinflusste das Oxycodon aber seinen geistigen Zustand. «Ich wurde vergesslich, und bei Kundengesprächen verlor ich immer mal wieder komplett den Faden. Ich konnte alles gut überspielen, was aber viel Energie kostete und einen noch höheren Konsum zur Folge hatte.» Die Wochenenden verbrachte Huber zusammen mit Oxycodon auf dem Sofa. «Das Gefühl des Abdriftens in eine wohlige, wattige Welt war so wunderschön, dass ich es kaum beschreiben kann.»

Der Familie hingegen fielen die vielen Tabletten irgendwann auf. Darauf angesprochen, reagierte Huber aggressiv und liess keine Diskussion zu. «Ich wusste, ich bin süchtig. Aber wollte und konnte nicht mehr auf Oxycodon verzichten.» Doch nach einem Nervenzusammenbruch sah er schliesslich nur noch zwei Möglichkeiten: Entzug oder Suizid. Um seine Ehe zu retten, liess er sich nach insgesamt drei Rückenoperationen und Monaten der Sucht in eine Entzugsklinik einweisen.

Körperliche Schmerzen, Schüttelfrost, Erbrechen, Stürze infolge Koordinationsschwierigkeiten und weitere Beschwerden: Sogar beim langsamen Ausschleichen des Oxycodons und unter Verabreichung von Beruhigungsmitteln beschreibt Huber die Symptome der Entgiftung als grauenhaft. «Ich rate allen, den Entzug in einer Klinik zu machen. Ohne den geschützten Rahmen hätte ich während dieser Zeit schon längst wieder zur Pille gegriffen.»

Noch schlimmer als die physischen Beschwerden waren für Huber aber die psychischen. Er beschreibt sie als schwarze Löcher im Gedächtnis. Nach der Gruppentherapie erkannte er zum Beispiel Mitpatienten nicht mehr. «Weil der Schutz der Pille wegfällt, ist die Psyche hochsensibel. Also blendet das Hirn alles aus, was zu viele Reize verursacht», erklärt Bosshart das Phänomen.

Insgesamt 13 Monate verbrachte Huber in der Klinik. Sieben Monate dauerte die Entgiftungsphase, weitere sechs Monate die Entwöhnung, um den Weg zurück ins Leben ohne die Substanz zu finden. Seit einem Jahr ist Huber nur noch in der Tagesklinik in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung. «Sonst wäre ich gleich wieder in der Klinik gelandet.» Nach einem einjährigen von der IV finanzierten Aufbautraining arbeitet er seit März 2023 wieder im Büro. Eine gute Mischung aus Administration und Kundenkontakt sowie flexiblen Arbeitszeiten, die es ihm erlauben, an einem schlechten Tag auch mal früher Schluss zu machen.

Das Hier und Jetzt geniessen

Und die Rückenschmerzen? Sie sind aushaltbar. «Es ist paradox, aber ich empfinde die Zeit der Sucht nicht als schlimm. Ich habe noch immer das schöne Gefühl des Abdriftens in mir.» Die Gedanken und das Verlangen danach nehmen aber stetig ab. «Ich bin heute auch dank der Unterstützung der Tagesklinik an einem anderen Punkt im Leben. Es mag kindlich tönen: Aber ich will einfach den Moment im Hier und Jetzt geniessen und dabei glücklich sein.»

6 Merkmale der Abhängigkeit

  • Starker Drang
    Die Gedanken drehen sich oft um den Konsum.
  • Kontrollverlust
    Der Konsum kann nicht kontrolliert werden.
  • Toleranzentwicklung
    Es müssen immer höhere Dosen eingenommen werden.
  • Entzugssymptome
    Die Substanz wird eingenommen, um körperliche Entzugssymptome zu vermindern.
  • Vernachlässigung
    Beziehungen oder andere Interessen werden vernachlässigt.
  • Anhaltender Konsum
    Die Substanz wird eingenommen, obwohl man weiss, dass sie schadet.

Hilfe finden

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Auf der Website der Schweizerischen Koordinations- und Fachstelle Sucht finden Sie Beratungsstellen in der ganzen Schweiz und online: www.infodrog.ch.