«Bin ich zu introvertiert?»
René G.: «Meine Freundin hat sich von mir getrennt. Sie sagt, ich sei viel zu introvertiert. Was versteht man genau darunter? Und kann ich etwas dagegen tun?»
Veröffentlicht am 14. Januar 2011 - 16:33 Uhr
Ursprünglich stammt der Begriff «introvertiert» vom Küsnachter Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961). Er fand ihn nützlich, um zwei verschiedene Typen von Menschen zu unterscheiden: eine eher nach innen gewandte Persönlichkeit und eine nach aussen orientierte Wesensart. Selbstverständlich ist kein Typus besser oder mehr wert. Deshalb sollten Sie auch nichts gegen Ihre Introvertiertheit unternehmen, falls die Diagnose Ihrer Freundin überhaupt zutrifft.
Wichtig ist, dass Sie von einer Partnerin in Ihrem echten Wesen geliebt werden. Mit jemandem, der Sie anders haben will, als Sie sind, können Sie nie glücklich werden. Ausserdem kann man einen Menschen auch nicht auf einen Charakterzug reduzieren. Ihr Wesen umfasst nicht nur eine, sondern viele Dimensionen.
Seit Jahrhunderten wird versucht, die Unterschiedlichkeit menschlichen Erlebens und Verhaltens systematisch zu erfassen. C. G. Jung ist nicht der Erste, der eine psychologische Typologie entwickelt hat – Charakterlehren haben Tradition. So hat zum Beispiel bereits der griechische Arzt und Philosoph Hippokrates vier Temperamente unterschieden. Die Astrologie kennt zwölf Wesensarten, die je einem Sternzeichen zugeordnet werden. Bekannt ist auch das Modell von Ernst Kretschmer, der drei Körperbautypen unterschieden hat – den Pykniker (rundlich), den Leptosomen (langgliedrig) und den Athleten (muskulös) – und diesen bestimmte Charaktereigenschaften zuschrieb. Im Unterschied zu anderen Modellen konnte sich das Konzept der Extravertiertheit bis in die moderne Wissenschaft halten.
Heute versucht man, das Wesen der Menschen mit fünf Dimensionen zu erfassen. Man spricht von den «Big Five»: Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus.
- Extraversion wird auch Begeisterungsfähigkeit genannt. Personen mit hohen Extraversionswerten sind gesellig, gesprächig, personenorientiert, herzlich, optimistisch und heiter. Sie sind zudem empfänglich für Anregungen und Aufregungen. Introvertierte Personen sind eher zurückhaltend bei sozialen Kontakten, gern allein und unabhängig. Sie können auch sehr aktiv sein, aber nicht in Gesellschaft.
- Personen mit hohen Offenheitswerten beschreiben sich als wissbegierig, intellektuell, phantasievoll, experimentierfreudig und künstlerisch interessiert. Sie verhalten sich häufig unkonventionell und bevorzugen Abwechslung. Personen mit niedrigen Offenheitswerten neigen demgegenüber zu konventionellem Verhalten und zu konservativen Einstellungen. Sie ziehen Bekanntes und Bewährtes dem Neuen vor.
- Personen mit hohen Verträglichkeitswerten begegnen anderen mit Verständnis, Wohlwollen und Mitgefühl, sie sind bemüht, anderen zu helfen, und überzeugt, dass diese sich ebenso hilfsbereit verhalten werden. Sie handeln eher kooperativ und sind voller Vertrauen. Personen mit niedrigen Verträglichkeitswerten beschreiben sich im Gegensatz dazu als misstrauisch gegenüber den Absichten anderer Menschen und verhalten sich eher kompetitiv als kooperativ.
- Personen mit hohen Gewissenhaftigkeitswerten handeln organisiert, sorgfältig, planend, verantwortlich, zuverlässig und überlegt. Personen mit niedrigen Gewissenhaftigkeitswerten handeln eher unsorgfältig, unachtsam und ungenau.
- Personen mit einer hohen Ausprägung in Neurotizismus erleben häufiger Angst, Nervosität, Anspannung, Unsicherheit und Verlegenheit. Personen mit niedrigen Neurotizismuswerten sind eher ruhig, zufrieden, stabil, entspannt und sicher. Sie erleben seltener negative Gefühle.
Diese Systematik kann helfen, andere Menschen, aber auch sich selber besser zu verstehen – sie eignet sich aber nicht dazu, andere zu bewerten oder zu kritisieren.