«Er denkt so oft an früher»
Nostalgische Gedanken vertreiben die Einsamkeit, weil sie ein Gefühl der Geborgenheit spenden.
Veröffentlicht am 19. Dezember 2011 - 09:57 Uhr
Annette G.: «Unsere Kinder sind längst gross und zurzeit im Ausland. Aber mein Mann will Weihnachten schon wieder so feiern, wie wir es immer gemacht haben, als die Kinder noch klein waren. Ich würde mich gern in vielen Bereichen neu orientieren, aber er hängt furchtbar am Alten.»
Das Erleben und Verhalten Ihres Mannes spiegelt das, was die Psychologen Nostalgie nennen. Dichter und Philosophen beschäftigen sich schon lange damit. Aber erst in neuster Zeit hat sich auch die Wissenschaft darangemacht, den Bereich zu erforschen.
Den belletristischen Klassiker zum Thema hat der Franzose Marcel Proust 1913 mit seinem siebenbändigen Werk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» geschrieben. Als sein Held einen kleinen Kuchen, eine Madeleine, auf der Zunge zergehen lässt, entfaltet sich die wunderbare Erinnerung an seine Jugend wie eine der dichtgedrängten japanischen Papierblumen, die sich im Wasser ausdehnen und aufblühen.
Lange hatte die Nostalgie jedoch einen schlechten Ruf. Der Schweizer Mediziner Johannes Hofer prägte den Begriff 1688, um die für ihn krankhaften Heimwehsymptome der Schweizer Söldner im Dienste europäischer Monarchen zu beschreiben. Ein Militärarzt stellte dazu die These auf, Schuld am Hang der Eidgenossen zur Nostalgie sei das ständige Klingen der Kuhglocken, das Ohren und Gehirn geschädigt habe.
Im 19. Jahrhundert wurde die Nostalgie schlicht als eine Form der Depression betrachtet. Erst im 20. Jahrhundert, eben etwa mit Proust, wurde die Nostalgie als bittersüsse Erfahrung anerkannt. Die glücklichen, oft auch etwas verklärten Erinnerungen an die eigene Vergangenheit bekommen in der Nostalgie eine leicht schmerzhafte Note, weil sie unwiederbringlich sind.
Im Grunde widerspricht es dem heutigen Zeitgeist, wenn man am Alten hängt. Die Konsumgesellschaft ist darauf angewiesen, dass wir immer wieder neue Produkte kaufen. Ihre Haltbarkeit darf also nicht zu gross sein. Besonders deutlich wird es bei den elektronischen Geräten. Immer wieder erscheinen neue Modelle mit leichten Veränderungen, die kaufen muss, wer im Trend sein will. Im Zusammenhang mit Handys spricht man sogar bereits vom «Gadget-Todeswunsch». Das heisst, der Besitzer wünscht sich selber, sein Gerät ginge kaputt, damit er das neue Modell kaufen kann.
Vielleicht ist dies so extrem, dass sich als gesellschaftlicher Gegentrend zunehmend ein Hang zur Nostalgie entwickelt. Die Marktforscherin Katherine Loveland von der Universität von Arizona hat entdeckt, dass verunsicherte Menschen durch den Konsum von Retro-Produkten ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden. Einen Fünfermocken oder einen Colafrosch schlecken, wie damals als Kind im Schwimmbad, das wirkt beruhigend. Klassische Marken wie Toblerone, Nivea, Ovomaltine können davon profitieren – vor allem in Krisenzeiten.
In eine ähnliche Richtung verweisen die Resultate einer Forschergruppe um Tim Wildschut an der Uni von Southampton. Wer sich der Nostalgie hingebe, haben sie herausgefunden, erlebe sein Leben als sinnvoller. Durch die Rückschau sieht man eine Linie in seinem Leben, man kann es ein bisschen so anschauen wie einen Film. Nostalgische Gedanken sind so etwas wie eine Auszeit, die es einem erlaubten, der stressigen Gegenwart vorübergehend zu entkommen. Sie spenden ein Gefühl der Geborgenheit und vertreiben die Einsamkeit.
Nostalgie ist nicht dasselbe wie zwanghafte Versuche, die Vergangenheit zu erhalten, oder krampfhaftes Festhalten am Alten. Es geht vielmehr darum, sich schönen und kostbaren Erinnerungen nochmals hinzugeben – im Bewusstsein, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt. Nostalgie tut zwar immer auch ein bisschen weh, aber hat grundsätzlich positive Auswirkungen auf die Seele. Gönnen Sie sich über Weihnachten und Neujahr ein wenig davon. Die Festtage sind dafür gut geeignet.