Wie man lernt, sich selbst zu verzeihen
Kein Mensch ist fehlerlos. Doch während einige diese Missgeschicke locker wegstecken, plagen sie andere noch lange. Wie wird man damit fertig?
aktualisiert am 26. Juli 2022 - 10:32 Uhr
Leserfrage: Wenn mir ein Fehler passiert, quält mich das nächtelang. Wie schaffe ich es, mir zu verzeihen?
Antwort von Dr. Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie:
Wenn wir einen Fehler machen, sind wir enttäuscht , traurig, beschämt oder fühlen uns schuldig. Häufig haben wir Angst, dass andere uns negativ bewerten. Die Intensität dieser Gefühle ist von der Situation abhängig. Meist reagieren wir stärker, wenn die Folgen unseres Fehlers gravierend oder unumkehrbar sind – oder wenn wir gegen unseren moralischen Kompass gehandelt haben.
Abhängig ist die Intensität auch von der Grundpersönlichkeit. Einige fühlen sich bereits bei kleinsten Fehlern sehr schuldig, leiden stark und über eine lange Zeit. Andere reagieren nur bei einzelnen Fehlern stark, es scheint Themen zu geben, die ihre Achillesferse sind. Schliesslich gibt es Menschen, die wenig oder gar nichts spüren, auch nicht bei gravierenden Fehlern, die anderen viel Leid verursachen. Sie gelten als asozial oder dissozial.
Wer sehr unter Schuldgefühlen leidet, dem könnten folgende Überlegungen helfen:
Früh in der Kindheit lernen wir, Fehler zu vermeiden. Unter allen Umständen. Fehler im Schulheft werden rot angestrichen. Noch schlimmer sind moralische Fehler. Wir alle erinnern uns, wie uns die Mutter beim Stehlen des Schoggistängelis erwischte – ihr Blick war enttäuscht und zornig, unser Blick beschämt, zu Boden gerichtet.
Fehler, Enttäuschungen und Scheitern gehören aber zum Leben, nur so lernen wir. Wir hätten alle nie laufen gelernt, wären wir nicht 958-mal gestürzt. Es gibt ja auch den Spruch, dass erfolgreiche Menschen nicht seltener umfallen, sie stehen nur schneller wieder auf. Und oft entpuppt sich ein vermeintlicher Fehler sechs Monate später als nicht ganz so gravierend oder gar als Glücksfall.
Sich mit einem Fehler auseinanderzusetzen, ist wichtig, man soll ja daraus lernen. Aber es ist eine Frage des Masses. Einmal eine Stunde auf einem Waldspaziergang darüber nachdenken und dann noch viermal zehn Minuten verteilt über vier Monate – das reicht völlig.
Nach einem Fehler oder einem Ereignis, für das wir uns schämen, haben wir negative Gefühle. Das ist normal. Negative Gefühle sind genauso wichtig wie positive für die psychische Gesundheit. Sie dauern eine Weile an und klingen wieder ab. Ohne dass wir etwas tun.
Viele von uns haben aber eine so grosse Angst vor den Scham- und Schuldgefühlen, dass sie viel Kraft investieren, ja keine Fehler zu machen. Sie sind perfektionistisch und harmoniefokussiert. Sehr viel Energie wird eingesetzt, dass alles rund läuft und ja niemand eine Kritik äussern wird. Das funktioniert erstens nicht besonders gut und macht zweitens sehr müde. Zudem fehlt solchen Personen die Erfahrung, dass Schuld- und Schamgefühle wieder abklingen.
«Niemand kritisiert uns so stark wie wir selbst. Was es braucht, ist Mitgefühl.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH sowie Präsident von Pro Mente Sana
Nach einem Fehler sind wir meist schnell mit der Analyse und nicht sehr wohlwollend. Niemand kritisiert uns so unerbittlich wie wir selbst. Was es aber braucht, ist Mitgefühl, und zwar mit uns selbst. Das heisst nicht, einen Fehler schönzureden, sondern einfach zu akzeptieren, dass uns Fehler, auch gravierende, ab und zu passieren und dass es sich sehr unangenehm anfühlt und es schwierig ist, die Gefühle auszuhalten, bis sie abklingen.
Es heisst auch, zu akzeptieren, dass wir Fehler nicht ungeschehen machen können. Auch wenn wir dadurch vielleicht eine Partnerschaft oder Freundschaft verloren haben. In solchen Momenten brauchen wir jemanden, der uns tröstet und in Würde zu uns steht. So heilen seelische Wunden. Am besten ist es natürlich, wenn wir uns selbst diese Person sein können.
Es gibt Menschen, die sich nicht verzeihen können. Manchmal hat das mit einer Art Selbsttäuschung zu tun. Sie nehmen die Schuld auf sich für Sachen, die nicht viel mit ihnen zu tun haben. Sie schreiben sich eine fiktive Einflussmöglichkeit zu: Wenn ich etwas als meinen Fehler erachte, hätte ich es ändern können.
Diese Selbsttäuschung ist manchmal einfacher auszuhalten, als sich einzugestehen, dass wir auf gewisse Sachen im Leben keinen Einfluss haben. Sehr klar zeigt sich das in der Trauer. Wenn wir unerwartet eine uns nahestehende Person verlieren, suchen wir häufig etwas, das wir hätten anders machen sollen, damit die Person nicht gestorben wäre.