Er dürfte damit gemeint haben, Sie seien ein besonders verletzlicher und empfindsamer Mensch. Aber um sicher zu sein, müssten Sie ihn danach fragen. Die Bemerkung hat Sie beunruhigt, weil es so klingt, als wären Sie irgendwie nicht normal, als wäre ein harter Kern das Normale, Gesunde.

Ich finde es durchaus normal und kann gut nachvollziehen, dass Sie durch den Verlust einer erfüllenden Arbeitsstelle in eine Krise geraten sind. Wesentliche Umstellungen im Leben sind meist mit leichteren oder schwereren Krisen verbunden. Und ich freue mich, dass Sie Ihr Gleichgewicht inzwischen wiedergefunden haben. Bestimmt kennen Sie den Ausspruch «Harte Schale – weicher Kern»: Jemand mit einem weichen Kern ist demnach ein empfindsamer, lieber und warmherziger Mensch. Er muss Sorge zu sich tragen. Allerdings gerade nicht, indem er eine harte Schale ausbildet, sondern indem er seine Verletzlichkeit ernst nimmt, auf sich hört und offen zu seinen Gefühlen steht. Man kann in unserer oft sehr harten und auf Konkurrenz ausgerichteten Welt stolz darauf sein, einen weichen Kern bewahrt zu haben.

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Was ist gesund — und was neurotisch?

Die Psychopathologie, die Lehre von den psychischen Erkrankungen, unterscheidet allerdings zwischen Normalem und Abweichendem. Gewisse Formen seelischen Erlebens und Verhaltens werden als Störungen oder Krankheiten definiert, die zu behandeln sind. Leichtere Leiden wie Ängste oder Zwänge werden als Neurosen bezeichnet, schwerere Depressionen und Schizophrenien als Psychosen.

Bereits Anfang des letzten Jahrhunderts hat aber der Vater der modernen Psychologie, Sigmund Freud, festgestellt, dass zumindest der Übergang zwischen «gesund» und «neurotisch» fliessend ist. Gesunde müssen mit den gleichen Konflikten zwischen Wünschen und Normen zurechtkommen wie Neurotiker. Wir sind alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Bloss ist einigen Menschen der Ausgleich zwischen diesen Kräften weniger gut gelungen oder sie ertragen innere Spannungen schlechter.

Die humanistische Psychologie sieht seelische Störungen als Krisen im Selbstbild eines Menschen: Im Laufe unseres Lebens, vor allem in der frühen Kindheit, haben wir ein Bild von uns selbst entwickelt. Einer hält sich zum Beispiel für eine Kämpfernatur, der andere für einen lieben Menschen.

Seelische Krankheiten sind ein Signal

Melden sich nun Erfahrungen, die nicht in dieses Bild passen, macht das Angst. Am einfachsten ist es, die neue Erfahrung gar nicht wahrzunehmen. Man verdrängt sie. Vielleicht gibt das dann Kopfweh oder Schlafstörungen, aber unser Selbstbild bleibt intakt. Wenn der Mensch, der sich für lieb und friedfertig hält, wegen einer Ungerechtigkeit plötzlich in Wut gerät, ist es möglich, dass er nichts spürt ausser Schlafstörungen. Er ist ins Ungleichgewicht geraten, neurotisch geworden. Ist die Wut so gross, dass er sie nicht mehr verdrängen kann, beginnt sein Selbstbild zu bröckeln. Das kann zu Angstanfällen oder zu psychotischen Episoden führen.

Der einzige Weg, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, besteht darin, die aggressive Persönlichkeitsseite ins Selbstbild zu übernehmen. Der Betroffene akzeptiert nun, dass er ein Mensch ist, der manchmal lieb, manchmal aber eben auch aggressiv ist. Eine solche Entwicklung zu fördern ist der Sinn einer therapeutischen Begleitung.

Jede Krise ist eine Chance, sein Selbst zu erweitern und danach ein erfüllteres und reicheres Leben zu führen. Seelische Störungen sind nicht Krankheiten, die man wegmachen muss, sondern sie sind ein Signal: Sie fordern einen dazu auf, ein neues seelisches Gleichgewicht zu suchen.