Es ist vielleicht nur ein Geruch, ein Geräusch, ein Geschmack. Und plötzlich ist sie da, die Erinnerung. Man fühlt das Prickeln der «Tiki» auf der Zunge und spürt wieder, wie es damals war, der erste Gang ohne Mama zum Kiosk, den Zweifränkler von Oma Martha fest in die Handfläche gepresst.
Nostalgie nennt man dieses Gefühl. Jeder kennt sie, in jeweils persönlichen Variationen, und mehrere Studien haben in den letzten Jahren gezeigt: Wer in der Vergangenheit schwelgt, tut sich Gutes.
«Nostalgie ist eine existentielle Quelle», sagt der niederländische Sozialpsychologe Tim Wildschut, der an der englischen Universität Southampton lehrt und sich seit längerem mit den positiven Auswirkungen der Nostalgie beschäftigt. In einer Studie mit 150 Studenten testete er, wie sich nostalgische Gefühle auf das Selbstwertgefühl auswirken. «Denken Sie an ein Ereignis aus der Vergangenheit, das sie nostalgisch werden lässt», bat er seine Probanden. Eine Kontrollgruppe musste an eine Episode aus der vergangenen Woche denken. Anschliessend überprüfte das Forscherteam, wie selbstsicher sich die Studenten fühlten. Die Gruppe mit den nostalgischen Erinnerungen zeigte deutlich höhere Werte.
Warum steigert Nostalgie das Selbstwertgefühl? Zugute kommt einem die rosa Brille, durch die man beim Blick zurück meist schaut. Wir erinnern uns vor allem an positive Erfahrungen, an Erlebnisse, aus denen man innerlich als Sieger hervorgegangen ist. Etwa an jenen Tag, an dem beim Gummitwist endlich ein komplizierter Sprung gelungen ist, obwohl das grosse Nachbarsmädchen den Gummi mit Absicht oberhalb ihrer Knie gespannt hatte. Wer an eine solche Szene denkt, reaktiviert das Gefühl der Stärke, das mit dieser Erinnerung verknüpft ist. «Nostalgische Gefühle erfüllen unser Leben ausserdem mit Sinn», so Wildschut. Denn sie helfen dabei, aus einzelnen Erinnerungen eine zusammenhängende Geschichte zu stricken.
Diese verbindende Wirkung beschränkt sich aber nicht auf die eigene Vita, sondern erstreckt sich auch auf Konsumgüter. Die Forschung zeigt, dass sich die Vorlieben der Menschen in ihrer Teenagerzeit ausprägen. Marketingexperte Dirk Smeesters von der Universität Rotterdam hat untersucht, warum Menschen Produkte, die mit ihrer Lebensgeschichte zusammenhängen, mögen.
In seiner Studie fand er heraus, dass die Retroprodukte das Zugehörigkeitsgefühl stärken. Er liess seine Testpersonen am Computer Ball spielen. Jene, die er früh ausschloss, nahmen sich im Anschluss viel eher von Keksen, die sie aus ihrer Kindheit kannten, als diejenigen Probanden, die bis zum Schluss mitspielen durften. «Wann immer Menschen sich besonders danach sehnen, irgendwo dazuzugehören, entscheiden sie sich für Produkte, die sie an früher erinnern», sagt Smeesters. Schöne Kindheitserinnerungen helfen also nicht nur den Beteiligten – mit Nostalgie lässt sich auch gutes Geld verdienen.
Die Marketingstrategen einer Fast-Food-Kette, eines deutschen Autobauers, eines Nylonstrümpfeherstellers und eines Likörs kamen allesamt zum Schluss, dass Zoe Scarlett die richtige Botschafterin für ihre Marke sei. Die 27-jährige Baslerin arbeitet seit gut sieben Jahren als Pin-up-Model und Burlesquetänzerin. Für sie ist ihre Erscheinung aber mehr als ein Job: Schminke, Frisur und Kleidung im Fünfziger-Jahre-Stil trägt Scarlett auch im Alltag.
Die Nostalgie wurde Zoe Scarlett – übrigens ihr wirklicher Name – in die Wiege gelegt. Ihr Vater restaurierte alte amerikanische Autos, die Mutter sammelte in Antiquitätenläden und auf Flohmärkten Utensilien aus den Fünfzigern. Schon als kleines Mädchen ging Zoe entsprechend gekleidet zur Schule und hat diesen Look seither einfach beibehalten. Doch es bleibt nicht bei Kleidern und Accessoires. Ihre Hände und Schultern wandern zuverlässig in adrette Posen. Den damenhaften Habitus habe sie sich aus alten Filmen abgeschaut und verinnerlicht. «Das bin ich – ich spiele nichts.» Sagts, legt die Wange an ihre gefalteten Hände und schliesst den Akt mit einem langsamen Wimpernschlag.
Dennoch ist Zoe Scarlett nicht ganz aus der Zeit gefallen. Sie picke sich einfach heraus, was ihr gefällt, mischt Alt und Neu. «Mit einem Föhn aus jener Zeit hätte ich längst keine Haare mehr. Ich habe ein Handy und einen modernen Staubsauger – dafür einen alten Plattenspieler, der beim Abspielen knackt und knistert.» Dass ihre Shows und ihr Stil in der heutigen Zeit so gefragt sind, ist für Zoe Scarlett keine Überraschung: «In Mode und Design kommt ja auch alles immer wieder. Man kann ja das Rad nicht neu erfinden.»
Reminiszenzen an gute alte Zeiten sind in der Konsumwelt allgegenwärtig. Technik, Mode und Unterhaltung lassen im Design den Geist vermeintlich glorreicherer Jahre anklingen. Wie gut solche Mechanismen in der Praxis funktionieren, zeigt die Geschichte der Marketingagentur Premotion. Am Stephanstag 1998 organisierte Sacha Johann – heute 40-jährig und Geschäftsleitungsmitglied – zusammen mit seinem Kollegen Pedro Llopart in Luzern eine Schlagerparty: «Wir spielten Songs wie ‹Knallrotes Gummiboot› und ‹Fiesta Mexicana› und projizierten dazu alte Dias von der Hochzeit meiner Eltern an eine Wand. Das war sehr lustig, denn alle kannten die Sachen aus ihrer Kindheit.» Beim nächsten Anlass standen die Leute eine Stunde lang Schlange am Eingang. Johann und Llopart organisierten weitere Events und gründeten schliesslich die Firma Premotion.
Diese betreibt unter anderem einen Onlineshop, in dem sie unter dem Label M-Stars verschiedene Logoklassiker aus der Migros-Produktepalette vermarktet. Die altbekannten Schriftzüge von Ice-Tea, Mirador und Milch zieren Umhängetaschen, Portemonnaies, Sonnenbrillen und T-Shirts. Die wohl berühmtesten Logos sind Seehund, Affe und Bär, die auf den Verpackungen der Rahmglaces prangen. «Die Produkte mit den Glace-Logos sind die absoluten Blockbuster im Shop», sagt Sacha Johann. Wen wunderts: Ihr Anblick erinnert viele an lange Sommernachmittage auf dem Fussballplatz – und daran, dass man die zwölf Glacestängel einer Schachtel damals locker zu zweit wegputzte, ohne sich dabei Sorgen um die Taille zu machen.
Der Trend zur Nostalgie habe sich in den letzten Jahren verstärkt, sagt der Schweizer Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber. Der ungebremste Fortschrittsglaube der Nachkriegsjahrzehnte wurde ausgebremst durch eine grundlegende Skepsis, vor allem bei den älteren Generationen, was den scheinbar immer schnelleren technischen Wandel angeht. «Je schneller sich die Umwelt wandelt, umso grösser ist das Bedürfnis der Menschen nach Fixpunkten», sagt Leimgruber.
Der Blick zurück hilft, sich zu orientieren. Und weil so mancher in den letzten Jahren mit der Digitalisierung und der Globalisierung mehr und mehr den Eindruck bekam, die Welt drehe sich immer schneller, hat die Nostalgie Aufwind und mit ihr alles, was an früher erinnert. Museen boomen, Denkmalschutz und das Bewahren von Kulturlandschaften habe wieder Gewicht, meint Leimgruber.
Karin Frick vom Gottlieb-Duttweiler-Institut (siehe Artikel Karin Frick:«In einer alternden Gesellschaft bekommt Nostalgie mehr Gewicht) nennt einen weiteren Grund, weshalb Retroprodukte bei den Konsumenten gut ankommen: «Wir leben in einer alternden Gesellschaft, da bekommen Erinnerungen und Nostalgie mehr Gewicht.»
Man muss eine bestimmte Epoche aber gar nicht unbedingt selbst erlebt haben, um deren Stil ansprechend zu finden. Viele moderne Produkte gemahnen mit ihrem Design an eine Zeit, die die Zielgruppe bestenfalls aus Filmen kennt, wie das Beispiel der deutschen Fahrradmarke Retrovelo zeigt: «Die meisten Käufer sind zwischen 30 und 45 Jahre alt», sagt der Zürcher Velomechaniker Andreas Schwengeler. Retrovelo spricht die Formsprache der Ami-Schlitten aus den Fünfzigern und Sechzigern: ein Stahlrahmen, dessen Gabelkopf an einen Kühlergrill erinnert, satte Farben und fette, weisse Ballonreifen. «So dick wie diese waren Veloreifen früher allerdings nie», sagt Schwengeler. Sie liessen dafür den Rahmen umso filigraner erscheinen. Jedes fünfte Fahrrad, das aus seinem Laden Velotto rollt, sei ein Retrovelo.
Ebenfalls aus elegant geschwungenen Stahlrohren ist das Hollandrad der niederländischen Marke Gazelle. «Die werden oft von Leuten aus Dänemark, Deutschland oder Holland gekauft, die hier leben.» Für sie sei die Art von Velo aber wohl eher Heimatverbundenheit denn Retrostil, sagt Schwengeler: «Die Holländervelos sehen nämlich seit Jahrzehnten gleich aus.»
Damit trifft das Rad aber ganz unverhofft den Ursprung der Nostalgie: Heimweh. Nostalgie ist der ursprünglich medizinische Begriff für diese Gemütskrankheit, die sich wie ein dunkler Schleier über die Seele legt. Die Schweiz spielt in der Geschichte des Begriffs eine besondere Rolle. Waren es doch helvetische Söldner, die den Arzt Johannes Hofer im 17. Jahrhundert dazu inspirierten, den Begriff zu prägen. Örtliche Wehmut war dabei massgebender als zeitliche. Nostalgie setzt sich aus den griechischen Wörtern «Nostos» für Heimkehr und «Algos» für Schmerz zusammen, also der Schmerz, den man fühlt, wenn man sich nach dem Vertrauten, dem Zuhause sehnt.
Die Heimweh-Symptome der Söldner schilderte Hofer als dramatisch: Herzrasen, Abmagerung, allgemeine Schwäche, Schlaflosigkeit oder Weinkrämpfe seien die Folge. Unbehandelt führe der Zustand sogar zum Tod. Einige zeitgenössische Kollegen Hofers meinten daraufhin, vermutlich habe das ständige Kuhgebimmel in den Schweizer Bergen das Gehirn und das Gehör der Söldner geschädigt.
«Ich habe vor allem die Leute vermisst», sagt Geraldine Gschwend. Ansonsten kenne sie Heimweh eher nicht. Die 31-Jährige verbrachte ihre Kindheit in Kenia – ohne Alpen und Kuhglockengeläut. Vor sieben Monaten hat sie zusammen mit Sabinska Binswanger, 38, ebenfalls eine ehemalige Auslandschweizerin, im Zürcher Kreis 3 ein kleines Café eröffnet: das Kafi Dihei. «Die Idee war, dass es unser Zuhause sein sollte, weil wir beide irgendwie nicht wussten, wo wir hingehören», sagt Binswanger. «Ein Daheim eben. Es sollte vor allem gemütlich sein.»
Das ist es. Eine Wand ist mit Rosenornamenttapete bezogen, in der Ecke steht ein Biedermeiersofa, und durch die stoffbespannten Lampenschirme schimmert warmes Licht. «Jeden Tag sagt jemand, der hier reinkommt: ‹Hier siehts genau so aus wie bei meiner Grossmutter›», sagt Binswanger. Das sei eigentlich keine Absicht gewesen, sie seien beide keine grossen Nostalgikerinnen. «Wir haben einfach Brockenhäuser und Flohmärkte durchstöbert nach Dingen, die uns gefallen haben.» Und damit den Geschmack der meisten Kunden getroffen. Die meisten Gäste fühlten sich wohl. «Und die anderen haben wohl einfach keine guten Erinnerungen an ihre Oma.» Das scheinen nicht viele zu sein, denn Gschwend und Binswanger sind zufrieden mit dem Geschäft.
«Lieber gemütlich als cool» gelte nicht nur beim Einrichtungskonzept, sagt Binswanger: «Die Lokale in Zürich werden immer anonymer, aber bei uns ist immer eine von uns zweien da. Wir wissen, wer Milch zum Espresso will, wer eine Prüfung hat und wer gerade von den Ferien in der Türkei zurückgekommen ist.» Und noch etwas sei wirklich ein bisschen «wie früher»: das kulinarische Angebot. «Brot, Kuchen, Konfi – bei uns ist alles selbstgemacht. Wir kochen lieber einfach und gut statt aufwendig und kalorienarm», sagt Gschwend.
Wer nun droht, angesichts all der schönen Erinnerungen an frühere Zeiten in lähmender Wehmut zu versinken, dem sei der Rat der US-Psychologin Sonja Lyubomirsky ans Herz gelegt: Man dürfe sich nicht darauf konzentrieren, dass die guten Gefühle in der Vergangenheit liegen, sondern darauf, wie gut sie sich damals anfühlten. Auch der Gedanke «Niemand kann mir diese gute Erinnerung und Erfahrung mehr nehmen» helfe dabei, nostalgische Gefühle positiv zu nutzen.
Und wenn das nicht klappt: Fast alles kommt irgendwann wieder. Ist nur eine Frage der Zeit.