«Ich habe keine Zeit für Achtsamkeit»
Achtsamkeit liegt im Trend. Doch wo soll man im stressigen Alltag Zeit für Meditation hernehmen? Tipps und Tricks, wie es gelingt.
aktualisiert am 19. Juli 2018 - 16:41 Uhr
Wir leben im Zeitalter der Selbstoptimierung. Wir achten auf genug Schlaf, ausgewogene Ernährung, Bewegung – und meditieren vielleicht auch. Das führt zu einem Paradox: Viele leiden unter Optimierungsstress – eben unter dem Stress, nun auch noch meditieren zu müssen. Aber wie soll das mit Job und drei Kindern vereinbar sein?
Es bleibt das schlechte Gewissen, dass man nicht genug tut für die Gesundheit. Ein chronisch schlechtes Gewissen wiederum ist alles andere als gesund für die Psyche.
Achtsamkeit ist wie eine grosse Welle, die uns seit zehn Jahren erfasst. Hilfreiche und auch wissenschaftlich fundierte Achtsamkeitskurse werden angeboten. Aber es gibt halt auch den Achtsamkeits-Badezusatz. Der Begriff Achtsamkeit ist nicht unproblematisch. Alle glauben irgendwie zu verstehen, was damit gemeint ist. Er suggeriert Sorgfalt, Bedachtsamkeit, vielleicht auch Langsamkeit, weg vom iPhone, hin zu mehr Natürlichkeit und Einfachheit.
Die Wurzeln von Achtsamkeit sind aber älter. Alle Weltreligionen kennen achtsamkeitsbasierte Praktiken. Christliche Wüstenmönche etwa konzentrierten sich aufs einfache Kochen einer Mahlzeit und huldigten damit Gott. Das war im dritten Jahrhundert nach Christus.
Achtsamkeit ist aber nicht per se spirituell
. Achtsamkeit ist auch atheistentauglich. Was verstehen wir nun heute darunter? Achtsamkeit hat viel mit dem Hier und Jetzt zu tun. Wenn ich unter der Dusche stehe, bin ich innerlich nicht noch beim gestrigen Abendessen mit der Freundin. Und auch nicht bereits bei den Schulaufgaben der Kinder, die noch anstehen. Ich bin in diesem Moment im Hier und Jetzt, spüre das Wasser auf meiner Haut, den Wasserdampf in der Luft. Ich spüre, wie ich mit den Füssen auf dem Boden stehe.
«Es klingt so einfach, im Hier und Jetzt zu sein – und ist doch so schwierig.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH sowie Präsident von Pro Mente Sana
Achtsamkeit hat mit Wahrnehmung zu tun. Wir haben gelernt, viele Reize auszufiltern. Zum Beispiel: Sie haben ein angeregtes Abendessen mit der Freundin und sind so ins Gespräch vertieft, dass Sie gar nicht merken, was Sie eigentlich essen. Auch den Blumenduft, der in der Luft hängt, nehmen Sie nur kurz wahr.
Achtsamkeit heisst: diesen Autopiloten, der das Filtern der Wahrnehmung steuert, bewusst ausschalten – und vermehrt versuchen, auch die Reize wahrzunehmen, die wir sonst ausfiltern. Man nennt das Panorama-Achtsamkeit. Wichtig wird sie vor allem, wenn wir unter Stress sind. Dann entwickeln wir einen Tunnelblick, sehen nur noch einen Ausschnitt und verlieren den so wichtigen Blick fürs Ganze.
Für mich kommt noch hinzu: Es zeichnet uns als Menschen aus, dass wir über uns selbst nachdenken können – und uns eben auch bewerten können. Während wir eigentlich das Gespräch mit der Freundin geniessen, sitzen wir auch auf dem leeren dritten Stuhl am Tisch. Wir beurteilen, wie wir wirken, was die Freundin wohl vom neuen Hemd hält, was sie mit dieser Bemerkung gemeint hat. Wir bewerten uns selbst.
Das ist per se nicht negativ. Aber zehn Minuten täglich würden ausreichen. Der Schweizer Durchschnitt liegt aber bei geschätzten 14 Stunden und 55 Minuten.
- Es gibt Achtsamkeitskurse, sogenannte MBSR-Kurse. Sie sind sehr effektiv, aber halt mit einem gewissen Zeitaufwand verbunden. Es wird Ihnen dort geraten, jeden Morgen eine Dreiviertelstunde zu meditieren. Um einen neuen Prozess zu erlernen, braucht es Zeit. Es klingt so einfach, im Hier und Jetzt zu sein – und ist doch so schwierig. Meditierende berichten oft, der Anfang sei schwierig gewesen, doch mit der Zeit hätten sie sich auf die Meditation gefreut. Sie wirkt belebend und entspannend. Leisten Sie sich das.
- Man kann kurze Achtsamkeitsblöcke in den Tag einbauen. Eben zum Beispiel unter der Dusche täglich nur zwei Minuten versuchen, im Hier und Jetzt zu sein. Die Wartezeit auf den Bus dazu nutzen, den eigenen Atem wahrzunehmen.
- Schliesslich gibt es die sogenannte komplexe Achtsamkeit. Hier versuchen Sie systematisch, nicht mehr so oft auf die Selbstbewertungsebene zu gehen. Weniger auf dem dritten Stuhl am Tisch zu sitzen, mehr im eigenen Körper zu sein und einfach auf das zu reagieren, was gerade ist – und nicht auf das, was sein könnte, mal war oder besser sein könnte. Wer diese Art von Achtsamkeit verstanden und verinnerlicht hat, wirkt oft sehr ruhig, besonnen, offen und hat eine positive Grundausstrahlung.
2 Kommentare
Danke für den wertvollen Hinweis, dass Achtsamkeit nicht immer einen spirituellen oder gar esoterischen Hintergrund haben muss. Da ich aus diesem Grund keinen passenden Blog gefunden hab, kreierte ich kurzerhand selber einen unter meinem Namen. Ich möchte als Anregung für Ihren guten Artikel noch erwähnen, dass auch Unachtsamkeit im positiven Sinne zur Achtsamkeit führen kann. Wenn ich länger vor einer roten Ampel stehe und gedanklich abschweife erinnere ich mich immer öfters Dank der Achtsamkeit, ganz bewusst und ruhig zu atmen und diesen Moment als willkommene Pause zu geniessen. Mit Training klappt das auch, wenn man in Eile ist. Ich würde gerne mehr von Ihnen zu diesem wertvollen Thema lesen wollen.