Ruth Baumann-Hölzle, müssen wir wegen der steigenden Gesundheitskosten unsere Ansprüche senken und auf teure Behandlungen verzichten?
Nein. Wir sollten Verantwortung übernehmen für unsere Gesundheit. Unser Körper wurde uns geschenkt, wir haben uns ja nicht selbst ins Leben gerufen. Daraus kann man die Verantwortung und das moralische Gebot ableiten, sorgsam und achtsam mit uns und unserem Körper umzugehen. Wenn wir hingegen anfangen, dem Patienten die Schuld für seine Krankheit aufzubürden, ist der nächste Schritt die Desolidarisierung mit kranken Menschen.
 

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Aus Ärztekreisen hört man mitunter die Feststellung, dass Patientinnen und Patienten mit sehr klaren Forderungen in die Sprechstunde kommen, welche Behandlung sie wollen. Wie ist das zu bewerten?
Als Kranke habe ich einen Grundanspruch auf angemessene Behandlung. Das heisst aber nicht, dass ich nicht indizierte Behandlungen einfordern kann. Zum Arzt zu gehen, ist etwas anderes, als zum Bäcker zu gehen. Beim Bäcker kann ich mir das Brot aussuchen, das ich kaufen will. Beim Arzt aber wird mir gesagt, was für Therapien in Frage kommen. Es braucht dazu medizinisches Know-how. Der Arzt muss den Grund für den Einsatz einer diagnostischen oder therapeutischen Massnahme, also die Indikation, am medizinischen Wissen ausrichten. Der Patient entscheidet dann, ob er eine indizierte Therapie durchführen will oder nicht. Behandlungen sind rechtlich eine Körperverletzung, weshalb der Patient einwilligen können muss.

Auch auf die Gefahr hin, dass er einen Patienten und damit einen Kunden verliert?
Ja, klar. Eine Behandlung ist medizinisch indiziert oder nicht. Ein Arzt, der eine unnötige Therapie verschreibt oder unnötig behandelt, macht Übertherapie und schädigt damit die Patientin.
 

Ein Arzt, der nicht behandelt, verdient nichts. Ist da die Verlockung nicht gross, die Wünsche des Patienten zu erfüllen, auch wenn es die Behandlung nicht braucht?
Das ist tatsächlich so. Man kann von einer unheiligen Allianz sprechen, die da entsteht. Die finanziellen Anreize sind völlig falsch gesetzt und wirken als grosse Kostentreiber. Das gilt nicht nur für niedergelassene Ärzte in eigener Praxis, sondern für das gesamte Gesundheitswesen. Resultat ist der sogenannte Overuse. Das sind medizinische Leistungen, die für den Patienten keinen Nutzen haben oder deren Risiken den potenziellen Nutzen übersteigen. In der Orthopädie beispielsweise haben die lukrativen Hüft-, Knie- und Rückenoperationen unverhältnismässig zugenommen.
 

Was muss getan werden?
Der Fokus sollte verstärkt auf die Indikationsqualität und auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Behandlungen gelegt werden. In Deutschland etwa untersucht das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen den möglichen Nutzen und den Schaden einer neuen Behandlung. In Grossbritannien hat das National Institute for Health and Care Excellence die gleiche Aufgabe.
 

Wie muss ich mir das konkret vorstellen?
Ich mache ein einfaches Beispiel, um das Prinzip zu erläutern. Einen Schnupfen können Sie mit einem Medikament bekämpfen oder mit einfachen Salzwasserspülungen. Beide Methoden wirken meist gleich gut. Salzwasserspülungen sind fast gratis, das Medikament kostet. Soll nun die Krankenversicherung das Schnupfenmittel bezahlen? Das Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis ist in diesem Fall hoch, obwohl es sich um ein billiges Medikament handelt. Umgekehrt kann es sinnvoll sein, auch ein sehr teures Krebsmedikament zu einer Pflichtleistung zu machen, nämlich dann, wenn es sehr wirksam ist. Solche Kosten-Wirksamkeits-Verhältnisse können dann als Schwellen festgelegt werden, die nicht überstiegen werden dürfen. Ohne Verbesserung der Indikationsqualität und solchen Prioritätensetzungen werden die Gesundheitsausgaben auch in Zukunft weiter steigen.

Zur Person

Ruth Baumann-Hölzle ist Mitbegründerin und Leiterin des «Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen» der Stiftung Dialog Ethik. Die studierte Theologin ist Expertin für Ethik in Organisationen und in der Gesellschaft und berät zahlreiche Organisationen bei heiklen Entscheidungen. Als Dozentin ist sie im In- und Ausland tätig. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen.