Man muss die Toleranz verdoppeln und den Egoismus halbieren, dann klappts ganz gut. Das ist meine Bilanz nach fast vier Monaten Zusammenleben mit drei Geflüchteten aus der Ukraine: der zehnjährigen Zlata und ihrer Mutter Jenya aus Tschernigow. Und der 64-jährigen Svytlana aus Kiew. Sie sind nicht miteinander verwandt und kannten sich vorher nicht.

Wir haben den oberen Stock für die drei geräumt. Wohnzimmer und Küche teilen wir uns alle.

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Hier in Longirod oberhalb von Nyon leben etwa 30 Geflüchtete aus der Ukraine – bei 520 Einwohnerinnen und Einwohnern. Ziemlich gross gelebte Solidarität, finde ich. Rund 20 leben im Maison de la Mission, dem Haus einer Genfer Kirchgemeinde.

Mein Mann Peter war Architekturmodellbauer, wir haben unten im Haus ein grosses Atelier, dort spiele ich Alphorn und Drehorgel. Ich habe Kindergärtnerin gelernt und liebe Musik. Das kam mir mit der kleinen Katja und ihrem Instrument zugute, doch davon später.

Ein offenes Haus

Katja, 9, und ihr Bruder Sasha, 13, wohnen mit ihrer Mutter Olya bei einer anderen Familie im Dorf. Die beiden sind Enkelkinder unserer Svytlana und kommen oft zu Besuch. Bei uns ist also immer etwas los. Platz im Haus haben wir genug. Drei Kinder haben wir hier grossgezogen und haben heute sechs Enkel zwischen 5 und 20 Jahren.

Peter und ich kamen 1969 aus der Deutschschweiz ins Welschland und leben nun seit 40 Jahren in Longirod. Französisch konnten wir schon seit der Schulzeit. Nicht zu vergleichen mit der Situation der Flüchtlinge heute, wo die Sprachbarriere schon ein Problem ist.

«Der Krieg hat uns sehr berührt.Wir ­waren erschüttert, dass so viele ­Menschen plötzlich alles verlieren.»

Vreni Hiltebrand

Warum wir Flüchtlinge aufgenommen haben? In unserem Alter? Weil uns der Krieg sehr berührt hat. Wir waren erschüttert, dass so viele Menschen nun plötzlich alles verlieren. So viel Leid. Zuerst haben wir bei der Glückskette gespendet, aber dann fanden wir, dass Geld allein nicht reicht, dass wir direkter helfen müssen.

Ein anderer Grund war persönlich: Wir haben vor anderthalb Jahren unseren Sohn Michael verloren. Er wäre heute 52 Jahre alt. Er starb nach einer Routineoperation, unfassbar. Wir waren in der Trauer gefangen. Nun den Fokus auf andere zu richten, bringt etwas Lebensfreude zurück. Wir werden abgelenkt, und es gibt wieder mehr Wärme im Haus.

Unsere beiden Töchter unterstützen uns. Sie haben zu viel um die Ohren mit ihren Kindern und der Arbeit, um selber Flüchtlinge aufzunehmen. Aber sie finden es gut, dass wir das machen. Wie die meisten unserer Freunde auch. Sie bewundern uns, sagen, sie könnten das nicht, hätten keinen Platz. Ich glaube aber, dass manche einfach nicht bereit sind, auf ihren Komfort zu verzichten.

Eine Sprache finden

Ich trage das Gold nicht um den Hals, sondern im Herzen – das ist mein Ansporn. Man muss auf die Menschen zugehen, sie einbinden, ihnen zuhören. Die ukrainischen Kinder sprechen heute dank der Schule ein wenig Französisch, mit den Erwachsenen unterhalten wir uns auf Englisch oder mit Google Translate. Svytlana kann kein Englisch. Es ist deshalb ganz wichtig, dass bei den Gesprächen beim Essen immer sofort für sie übersetzt wird, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlt. Sie lernt nun auch Französisch und macht Fortschritte.

Alle drei Gäste können bei uns bleiben, solange sie möchten. Jenyas Wohnung in Tschernigow wurde ausgebombt, sie kann jetzt nicht zurück. Die Lage in Kiew ändert sich ja auch dauernd; ich denke, dass alle noch ein Weilchen bei uns bleiben werden. Wir leben wie eine Grossfamilie zusammen. Wenn es mal Reibereien gibt, diskutieren wir alles sofort aus, und gut ist.

Jenya hilft gern beim Putzen, und Svytlana kocht hervorragend. Wenn ich mal ein paar Tage weg bin, sorgt sie rührend für meinen Peter. Sie versuchen alle, uns etwas zurückzugeben. Wenn es mir mal zu viel wird und ich mich über irgendwas Nichtiges aufrege, sagt Peter jeweils: «Ist das so wichtig? Ist doch nicht so schlimm.» Er hat recht, wir müssen entspannt und grosszügig miteinander umgehen.

Ein trauriges Mädchen

Aber zurück zu Katja. Kurz nachdem die drei Geflüchteten zu uns gekommen waren, kam die kleine Katja ihre Grossmutter besuchen. Sie sah ernst und traurig aus, das tat mir im Herzen weh. Ich suchte mit ihr das Gespräch und fand heraus, dass sie in Kiew Gesangs- und Bandura-Unterricht genommen hatte und wohl ziemlich gut spielte. Ihre Bandura, ein ukrainisches Saiteninstrument, musste sie auf der Flucht in Kiew zurücklassen.

«Die ganze Mühe war es wert: Katjas Gesicht am nächsten Morgen hat mich für alles entschädigt.»

Vreni Hiltebrand

Noch am gleichen Abend suchte ich alle möglichen Internetportale nach einer Bandura ab – und fand nach ein paar Tagen tatsächlich eine in einem Brockenhaus im Aargau. Ich reservierte sie, und wir schickten Fotos des Instruments an Katjas Musiklehrerin in der Ukraine. Sie fand, die Bandura sehe sehr gut aus. Am nächsten Tag fuhr ich nach Suhr, kaufte sie und bekam sogar noch einen Ukraine-Sympathierabatt.

Das Instrument ist kunstvoll bemalt. Ich habe die halbe Nacht die 55 Saiten des Instruments gestimmt und musste nur eine ersetzen.

Die ganze Mühe war es wert: Katjas Gesicht am nächsten Morgen hat mich für alles entschädigt. Sie hatte eine solche Freude und kommt nun mehrmals die Woche zu uns zum Üben. Wenn sie irgendwann in die Ukraine zurückgeht, werde ich das Instrument übernehmen und lernen, es zu spielen.

Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».

Über die Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia»

Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.

Sie haben interessanten Stoff für zahlreiche Berichte gesammelt: Gespräche mit spannenden Menschen, überraschende Entdeckungen, Einblicke in aktuelle Entwicklungen und schwelende Konflikte. Es geht um Heimat und Identifikation, um Trennendes und Verbindendes.
 

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