Die Turbo-Town
Corona hat dem Pharmakonzern Lonza einen Wachstumsschub verpasst. Damit kommt der Standort Visp an sein Limit. Über das Manövrieren zwischen Fluch und Segen.
Veröffentlicht am 21. Juli 2022 - 20:55 Uhr
Niklaus Furger ist ziemlich vieles in Visp. Unter anderem ist er Gemeindepräsident, Präsident der Sepp-Blatter-Stiftung und Mitglied der Burgerschaft. Und er spielt Trompete in der Blaskapelle Sempre Avanti. So auch am Pürumärt, dem Bauernmarkt, wo sich das Visper Volk jeweils am Freitagabend bei einem Glas Fendant oder zwei fürs Wochenende warmläuft.
«Hüere güet» sei es wieder gewesen, hört Furger nach seinem Auftritt dann oft. Kürzlich aber: «You’re a nice band.»
Der 69-Jährige – seit einem Vierteljahrhundert Lokalpolitiker – hat etliche solcher Episoden auf Lager. Sie erzählen, wie der Herzschlag seines Heimatorts nach und nach einen anderen Rhythmus angenommen hat, einen neuen Klang auch – die Neuen von der Lonza werden spürbar.
Ein Ausdruck davon sei, dass am Pürumärt, dem Stelldichein der Einheimischen, vermehrt Englisch statt Walliserdeutsch gesprochen und Bier statt Wein getrunken werde. Aber auch, dass Furger, dieser Hansdampf in allen Visper Gassen, heute noch jeden vierten Marktbesucher kennt. Früher war «där Niklöis» mit praktisch allen auf Du und Du.
Früher, da war Visp eine unaufgeregte, etwas schmucklose Gemeinde im oberen Rhonetal. Für viele ein Umsteige- und Durchfahrtsort, um in eines der Walliser Tourismusgebiete zu gelangen. Und sonst weit entfernt vom restlichen Land, der Üsserschwiiz, was den Wallisern gar nicht mal so ungelegen kam.
Tempo Teufel
Das änderte sich 2007 mit der Eröffnung des Neat-Basistunnels am Lötschberg. Die Randregion entwickelte sich zur Boomregion, lange nur zögerlich, jetzt im Tempo Teufel. Mittendrin Visp. Um einen Viertel stieg dessen Bevölkerungszahl seither, die Zahl der Arbeitsplätze noch stärker.
Das geht nicht ohne Begleiterscheinungen. Jeden Morgen fallen 7000 Berufspendler in Visp ein, ihre Autos verstopfen Strassen und besetzen Parkplätze. Die Mietpreise sind bald so hoch wie in Zürich: 2,5-Zimmer-Wohnungen werden für gegen 1800 Franken ausgeschrieben. Auswahl gibt es nur beschränkt, denn der Anteil der inserierten Wohnungen liegt bei unter 2 Prozent des Gesamtbestands – der lokale Immobilienmarkt ist stärker ausgetrocknet als in Zürich oder Lausanne. 400 Wohnungen werden gegenwärtig gebaut, sie decken nur einen Teil der Nachfrage. Visp ist auch zum Shoppingcenter geworden. Das Angebot ist auf 25'000 Personen ausgerichtet – und doch steht kein Ladenlokal leer.
Das sind Kennzahlen einer blühenden Kleinstadt, die mit ihren gut 8000 Einwohnerinnen und Einwohnern eigentlich noch immer ein Dorf ist. Die NZZ kolportierte letzthin einen Spruch des Stadtpräsidenten von Monthey im Unterwallis: Es gebe auf dem Planeten zwei wirklich boomende Orte – Dubai und Visp.
Kommt einem das nicht manchmal «gfiirchig» vor, wenn bald nichts mehr ist, wie es immer war?
Die Replik des Gemeindepräsidenten, ob ihm angesichts der Vehemenz dieser Transformation nicht angst und bange werde, klingt ein bisschen zu geschliffen: «Wir sind es uns seit jeher gewohnt, Leute zu integrieren. Visp ist Neuem gegenüber offen.» Nur das Tempo des Wandels sei herausfordernd, sagt Niklaus Furger. In seiner Neujahrsbotschaft im Lokalblatt schrieb er: «Wir erleben zurzeit eine überdynamische Entwicklung.» Turbo-Town Visp.
Grosses Ja – kleines Aber
Der positive Grundton hat viel mit dem Motor des Wachstums zu tun: dem Pharmakonzern Lonza. Visp und die Lonza, das ist wie der Baum und sein Ast, den niemand absägt. Visp ohne Lonza, das funktioniert nicht. Man hat gemeinsam schlechte Zeiten gemeistert, wie vor zehn Jahren, als die Firma Leute auf die Strasse stellte. Ebenso später, als lange vertuschte Umweltskandale aufflogen.
Und nun also die guten Zeiten.
Sind sie denn gut? Wen immer man fragt in Visp, ob die plötzliche Blüte Fluch oder Segen sei, die Reaktion ist stets dieselbe: ein grosses «Ja, es ist gut für uns». Dazu maximal ein kleines Aber.
Die Argumente fürs Ja: Die Lonza hat mit ihrer Neupositionierung als Zulieferin der Pharma- und Biotechindustrie Erfolg. Das bekam spätestens 2020 die ganze Welt mit, als im Werk Visp mit der Herstellung des Moderna-Impfstoffs gegen Covid-19 begonnen wurde. Durch den massiven Stellenausbau ist die Lonza ein Magnet für hoch qualifizierte Berufsleute mit guten Löhnen geworden. Davon profitiere die Allgemeinheit, rechnet der Lonza-Mediensprecher im «Walliser Boten» vor: Bei jährlich über 400 Millionen Franken an Gehältern und Sozialleistungen würden jeden Tag über eine Million Franken in die Region Oberwallis fliessen.
Der Konzern hat in den letzten drei Jahren eine Milliarde Franken in den Standort Visp gesteckt. Weitere Investitionen sind geplant. Sichtbares Zeichen davon ist der riesige Produktionskomplex Ibex: Momentan wird am dritten Gebäude gebaut, zwei weitere folgen.
Aber dank der hohen Investitionen kann die Lonza kräftig Steuern sparen. Für Visp bleibt kaum etwas übrig, zumal der Konzern den Gewinn am Hauptsitz in Basel versteuert. Dass sich der Aufschwung bislang nicht in der Gemeindekasse widerspiegelt, ist einer dieser kleinen, in Visp nur leise ausgesprochenen Flüche. Ein anderer ist die Sorge, dass das lokale Gewerbe wegen des Lonza-Jobwunders unter Fachkräftemangel leiden muss. Ansonsten ahnungsvolle Fragen, auf die noch niemand die Antwort kennt: Geht das alles nicht zu rasant? Wie nachhaltig ist das? Wird das Klumpenrisiko Lonza nicht zum Bumerang?
Fest steht: Wenn irgendwo die Wirtschaft derart durchstartet, kann sich die Umgebung den Veränderungen nicht entziehen. Sie kann nur versuchen, die Entwicklung in die gewünschte Richtung zu lenken. Das kann mit harten Massnahmen und weichen Faktoren passieren. Begegnungen an vier Schauplätzen.
Für Erwachsene: Wallis verstehen lernen
Felizitas Berchtold stellt den Besucher vor, als gäbe es ein exotisches Tier zu bestaunen. «Das ist jetzt eben ‹äs Grüezi», sagt sie verschmitzt. Ihre Schülerinnen und Schüler gucken verständnislos. Sie kommen von noch weiter her als bloss von der Alpennordseite. Später in dieser Lektion werden sie über die menschlichen Körperteile rätseln: «ds Chnäw», «där Zeewu», «ds Fittla», «där Tschaaggu», «d Läschpini» (Knie, Zeh, Hintern, Bein, Lippen).
Die meisten, die hier in der Sprachschule Academia in die Wunderwelt des Walliser Dialekts eintauchen, arbeiten neu bei der Lonza – Deutsche, Engländerinnen, Schweden. «Es sind Leute, die bleiben wollen und hier am gesellschaftlichen Leben teilhaben möchten», sagt Lehrerin Berchtold. Und die Sprache sei dafür die Eingangspforte. «Hina gääwer eis ga ziä!»: Wem das spanisch vorkommt, wird am Feierabend beim Apéro nicht mit dabei sein.
Seit drei Jahren erteilt sie ihren Kurs in Walliserdeutsch. Die Nachfrage ist enorm. Zehnmal anderthalb Stunden, in denen es nicht nur darum geht, eigentümliche Wortgebilde zu verstehen, sondern auch die hiesige Kultur und das Brauchtum kennenzulernen. «Erst wenn die Leute wissen, was ein Stechfest ist, gehen sie auch mal dorthin.» Für alle Nicht-Walliserinnen und -Walliser: Dort finden die Kämpfe der Eringerkühe statt.
Ist ihr Engagement nicht auch eine nostalgische Gegenoffensive zum Englisch am Pürumärt? Die 62-Jährige widerspricht nicht.
Felizitas Berchtold stammt aus Visp, ihr Partner und ihr Sohn arbeiten bei der Lonza. Den gegenwärtigen Entwicklungsschub verfolgt sie genau – und nicht ohne Skepsis: «Es geht zu schnell. Ich weiss nicht, ob das gesund ist.»
Für Kinder: Kita-Betreuung ausbauen
Kaum ausgebaut, schon ausgebucht: Nichts verdeutlicht die demografische und gesellschaftliche Erneuerung in Visp so schlagend wie die ständig steigende Nachfrage nach Kinderbetreuungsplätzen. Im Mai hat die Kita Spillchischta das alte Abwartshaus beim Schulhaus Baumgärten bezogen – der dritte Erweiterungsschritt in nur vier Jahren. Jetzt können 180 Mädchen und Buben familienergänzend oder ausserschulisch betreut werden.
Etwa die Hälfte sind Kinder von Lonza-Angestellten, das macht die Spillchischta immer internationaler. «Eintrittsgespräche in Englisch sind eine neue Erfahrung», sagt Elisabeth Jordan. Die Kindheitspädagogin arbeitet seit 19 Jahren in der Visper Kita, vor kurzem hat sie die Leitung übernommen. Die Zuzüger erlebe sie als offen und interessiert, auch seien sie bemüht, Deutsch zu lernen. Integration über die Kinder, das klappt auch hier.
Jordan erhält regelmässig Anfragen nach einem Betreuungsplatz für die Sprösslinge neuer Lonza-Mitarbeitender – und zwar per sofort. Bei solchen Ansprüchen gibt sie Gegensteuer. «Im Zentrum stehen das Kind und seine Bedürfnisse, die Qualität der Betreuung muss stimmen.» Wenn kein Platz frei sei, dann müssten die Expat-Familien halt warten. Oft zu deren Erstaunen, weil sie sich das aus ihrer Heimat anders gewohnt sind.
«Kinderbetreuung darf kein Massengeschäft sein», sagt Michael Lochmatter-Bringhen. Der 36-Jährige ist im Gemeinderat für Gesundheit und Soziales zuständig. Die Gemeinde unterstützt die Spillchischta, einen Verein mit Leistungsauftrag, mit einem jährlichen Beitrag von mehreren Hunderttausend Franken, Tendenz steigend. Und sie ermöglicht die nötigen Investitionen. Lochmatter-Bringhen bereiten die steigenden Betriebskosten Sorgen. Doch der Druck, das Angebot weiter auszubauen, sei gross. Pläne dafür gibt es schon: 2025 soll in einem der Visper Neubaugebiete ein ganzer Kita-Campus mit 230 Plätzen eröffnet werden.
Mittendrin: Wo das künftige Visp geplant wird
Im Dachstock des Rathauses, mitten im historischen Kern, ist das Visp der Zukunft zu besichtigen. Wie man es sich vorzustellen hat, zeigen auf Stellwände gepinnte Pläne und Visualisierungen. Wobei das mit der Zukunft relativ ist: «Der Schritt vom Dorf zur Stadt dauert normalerweise Jahrzehnte», sagt Deborah Eggel. «Hier geschieht er innert Monaten.»
Eggel leitet die Abteilung Bau und Planung der Gemeindeverwaltung. Ihre Aufgabe ist die «urbane Transformation im räumlichen Kontext», wie auf den Unterlagen steht, die sie durchblättert. Etwas bodennäher formuliert: Wie krempelt man einen Ort um, der bald aus allen Nähten platzt? Und wie erhält man ihn bei dieser Metamorphose lebenswert?
Mit dieser Frage beschäftigen sich die Visperinnen und Visper schon länger – vorausschauend, was da kommen könnte. Ab 2012 erarbeitete die Gemeinde einen Masterplan für die raumplanerische Entwicklung. Weil das von Bergflanken umgebene Stadtdorf kaum mehr in die Breite wachsen kann, geht es um die Verdichtung im bereits überbauten Raum. Für acht Gebiete rund um den Bahnhof wurden Quartierpläne geschaffen, um die Umgestaltung zu steuern.
Deborah Eggels vordringliches Ziel ist es, mehr innerstädtische Qualität zu erreichen. «Es geht nicht nur ums Zubauen, sondern ebenso sehr ums Zurückbauen und Öffnen», sagt sie. So soll in jeder der acht Quartierplanzonen ein öffentlicher Platz entstehen; insgesamt wird Visp einen Drittel mehr Grünflächen erhalten. An solchen Dingen zeigen sich für die 42-jährige Architektin die Chancen der auferlegten Veränderung. «Gewisse Themen hatten zuvor keine Priorität. Jetzt erhalten sie Gewicht.»
Am Tag vor der Visite im Bauamt hatte der Bundesrat den Grundsatzentscheid für eine zweite Neat-Röhre am Lötschberg gefällt. Umgehend bohrte die Lokalpresse nach: Was bedeutet das für Visp? Kommt jetzt noch mehr? Deborah Eggel hält den Ball erst einmal flach: «Wir müssen an unseren Zielen festhalten und ruhig bleiben.» Seltene Töne in diesen Zeiten der grossen Aufgeregtheit.
Drumherum: Wie die Bergdörfer aufrüsten
Der Boom ist auch bergtauglich. In den Bergdörfern der Umgebung profitiert man ebenfalls davon und sucht weitere Möglichkeiten, wie man sich ein Stück vom Kuchen abschneiden kann. So meldet Unterbäch «einen Zuwachs von 10 Prozent der Einwohner im letzten Jahr». Bürchen freut sich über «diverse Wohnbauprojekte», die in Planung sind. Und Eischoll hat genau nachgezählt: «Es haben sich zwei Familien mit insgesamt fünf Kindern niedergelassen.»
Neue Leute, besonders Kinder, das ist das Gold dieser strukturschwachen Orte. Andreas Imstepf, der Gemeindepräsident von Zeneggen, hilft da etwas nach: Familien mit Nachwuchs im Oberstufenalter erhalten zwei Jahre lang 3934 Franken in bar, wenn sie sich in seinem Bergdorf niederlassen. 3934 ist die Postleitzahl von Zeneggen, Luftlinie drei Kilometer von Visp entfernt, aber 750 Meter höher gelegen. «Wir sind eine Agglo- und Schlafgemeinde», sagt Imstepf. Oben wohnen, unten arbeiten – so machen es viele hier. Der Präsident selbst ist ein «Lonzianer».
Imstepfs Lockvogel zieht. Zwei Kinder wurden schon eingeschult, ein drittes kommt nach den Ferien hinzu. «Damit sind wir safe.» Was der Gemeindepräsident meint: Man hat jetzt die mindestens sieben Oberstufenschüler, die es braucht, um die Schule offen zu halten. Der Kanton hatte für 2022 bereits die rote Karte gezückt, doch im letzten Moment einen Aufschub gewährt, nachdem die Gemeinde ihre Prämienaktion ins Feld geführt hatte.
Andreas Imstepf ist erleichtert. Wenn die Schule schliesse, gehe es mit einem Bergdorf schnell bergab, ist er überzeugt. Davon gebe es im Wallis Beispiele genug. 310 Einwohnerinnen und Einwohner hat sein Dorf heute, «noch etwas Wachstum auf 400, 450 wäre gut». Die Voraussetzungen stimmen. Erstmals seit Ewigkeiten wird im Dorf ein Mehrfamilienhaus gebaut; elf Wohnungen sind bald bezugsbereit. Seit kurzem gibt es auch ausserschulische Betreuung, und die Erschliessung mit Glasfaser ist aufgegleist. «Solche Dinge musst du heute einfach bieten.»
Aber damit nicht genug. Der bauernschlaue Präsident hat weitere Pläne: eine Seilbahn vom Dorf direkt hinunter nach Visp. Noch gibt es die erst auf einem Blatt Papier, aber er bleibe dran, verspricht Imstepf. «Sechs Minuten Fahrzeit», das hat er schon mal ausgerechnet.
Feierabendzeit am Freitag, nochmals die kurvige Strasse runter nach Visp: Pürumärt. Stimmt es eigentlich, dass hier neuerdings so häufig Englisch gesprochen wird, wie der Gemeindepräsident behauptet? Der Befund schon nach kurzem Streifzug: Ja, es stimmt. Allerdings haben viele der Zuzüger ein Glas Wein in der Hand, während die Walliser Bier trinken. Wenn sich ein Ort neu erfindet, halten sich alte Klischees nicht lange: In Visp ist nichts mehr wie immer.
Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».
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