Von Herrgottstag und Teufelsbrücke
Begegnungen zwischen Visp und Einsiedeln, wo die Menschen Traditionen hochhalten und Geschichten von Landflucht und vom Teufel erzählen.
Veröffentlicht am 21. Juli 2022 - 20:56 Uhr
«Äs geit witer.» Das heisst: Bierbüchsen weg, Uniform zuknöpfen. Einstehen in Reih und Glied, Fahnen hochheben, Gewehre und Heiligenstatuen schultern, Instrumente bereithalten. Der Dirigent hebt den Stock, schwingt ihn kurz, die Musik setzt ein. Dann marschieren sie los in Visp: die Frauen in strengen Trachten, die Herrgottsgrenadiere in historischen Uniformen, Kinder in Erstkommunionskleidern. Mittendrin, unter einem von vier schwarz gewandeten Männern getragenen Baldachin, der Pfarrer im Messkleid mit der Monstranz.
Und drei Meter daneben ich: Velo-T-Shirt, Velohose, Stirnband. Viel unpassender geht nicht.
«Du weisst aber, dass morgen Fronleichnam ist?», hat mich am Vorabend eine Nachbarin gefragt, als ich ihr erzählte, dass ich mit dem Velo von Visp nach Einsiedeln fahren will. Ich wusste nicht einmal, was Fronleichnam ist. Auf Wikipedia las ich dann, dass mit Fronleichnam «die bleibende Gegenwart Jesu Christi im Sakrament der Eucharistie gefeiert wird». Für mich ist das etwa so exotisch wie eine buddhistische Tempelzeremonie. Manchmal ist einem das Nahe fremder als die Fremde.
Auch in Naters marschieren sie: die Trachtenfrauen, Herrgottsgrenadiere, Ministranten, der Pfarrer unter dem Baldachin. Und die Soldaten mit ihren alten Karabinern, jüngere und ältere, in mehr oder weniger gut sitzenden Uniformen.
1972, mitten im Vietnamkrieg, habe der Kaplan die Gemeinde bei der Predigt gefragt, ob es noch zeitgemäss sei, «dass wir den Herrgott mit aufgepflanztem Bajonett durch die Strassen von Naters begleiten», lese ich im «Walliser Boten» vom Vortag. Aus lauter Trotz gründeten die Natischer Wehrmänner darauf den St.-Merez-Verein und marschieren bis heute mit aufgepflanztem Bajonett. Daran ändert offensichtlich kein Krieg etwas.
In Ernen steht ein improvisierter Altar auf dem Dorfplatz unter einem Baum. Ein Kreuz und ein Anker hängen herab, dazu drei Spruchbänder: Glaube, Liebe, Hoffnung. «Als ich das letzte Mal hier war, hat einer im Dorfbrunnen da vorn gebadet», erzählt eine Frau, die eben aus dem Postauto gestiegen ist, ihrer Freundin. «Blutt!» – «Aber das war doch im Februar?!» – «Eben.»
Toni Hischier erzählt von den Jungen aus dem Tal, die keine Wohnungen mehr finden. Vom Dorf, das immer mehr überaltert.
In Oberwald treffe ich in einem umgebauten Speicher auf Toni Hischier, Herr über 1000 Paar Ski, in seinem privaten Museum. Es braucht nur eine harmlose Frage – «Ist das der Ski, mit dem Edi Hauser 1972 in Sapporo die Bronzemedaille geholt hat?» –, und Toni legt los. Attenhofer, Müller, Authier, Kandahar-Bindung, Lederschuhe, Schuppenski, Metallski, Selina Gasparins letzter Renndress, Walter Steiners Skisprungski – Schweizer Skigeschichte im Schnelldurchlauf. 48-mal hat Toni den Gommerlauf bisher absolviert. Noch zweimal will er die 42 Kilometer unter die Langlaufski nehmen. «Und dann am liebsten im Ziel tot umfallen.»
Toni Hischier erzählt aber auch anderes: von den Jungen aus dem Tal, die keine Wohnungen mehr finden, weil die ältere Generation einst Land und Liegenschaften an Auswärtige verkauft hat. Vom Dorf, das immer mehr überaltert, weil seit Jahren keine Kinder mehr auf die Welt gekommen sind. Und vom Fronleichnamsumzug, der mangels Dorfmusik ohne Blaskapelle auskommen musste.
Am nächsten Morgen pedale ich früh los Richtung Furka. Beim «Belvédère», dem einstigen Aussichtspunkt mit Blick auf die Eismassen, zahle ich an der Kasse neun Franken und darf dann einen Blick auf die Gletscherreste werfen. Die Eisgrotte ist eine lieblos ins Eis gehauene Baustelle, und die weissen Planen, die den verbliebenen Gletscher über ihr abdecken, geben nicht einmal vor, diesen retten zu wollen. Es ist bestenfalls ein Versuch, eine Einnahmequelle noch ein paar Jahre am Leben zu erhalten. Bis sich das Eis so weit zurückgezogen hat, dass das auto- und töfffahrende Publikum den Weg nicht mehr unter die Turn- und Stöckelschuhe nehmen mag.
Kurz vor Hospental steht Oskar Dittli am Strassenrand. Er hält Würste, Käse, Nusstorte feil, doch die Geschäfte laufen mässig. Wir kommen ins Reden, und so kurz vor Samih Sawiris’ Nobelresort in Andermatt drängt sich mir eine Frage auf: Wie ist das eigentlich, wenn ein Investor eine ganze Landschaft kauft? Nichts Besonderes, sagt Oskar: «Ich habe damals einiges Land gekauft von Bauern, die teilweise enteignet wurden und dann nicht mehr genug Land hatten, um weiterzumachen.»
Und dann verrät er mir noch ein Geheimnis: Den Teufel, den gibt es wirklich. Die Sage vom Antichrist, der in der Schöllenen eine Jungfrau als Tribut forderte und von den schlauen Urnern einen verkleideten Geissbock erhielt: Sie ist so geschehen, verbrieft in einer Urkunde, in der die Familie Dittli erwähnt ist. Nur leider hat einer von Oskars Urahnen besagte Urkunde einst an einen Anwalt verkauft, und dessen Tochter verlangt nun 5000 Franken dafür. Wie sagt man nur wenige Kilometer von hier so schön: Se non è vero, è ben trovato.
Für die Frauenrechtlerin Emilie Lieberherr wurde eine simple Gedenktafel erstellt, für die Sagenfigur Tell in Altdorf ein Denkmal.
In Andermatt ist Jodlerfest. Auf der Piazza Gottardo, jenem freien Platz zwischen «Radisson Blu», Victorinox-Shop, Luxusappartements, teuren Restaurants und Immobilienbüro, kommt die traditionelle Schweiz ziemlich verloren daher. Trachtenleute wundern sich über Köche von Edelrestaurants, die plötzlich Bratwürste braten. Ein Männerchor bringt mitten in den alpin verbrämten Hochhäusern ein Ständchen dar, und beim Festzelt vor dem Nobelhotel wird Müll getrennt.
Ich setze mich wieder aufs Velo und schlängle mich durch die Schöllenenschlucht ins Tal hinunter. Auf der Teufelsbrücke denke ich kurz an Oskar und den Teufel. In Göschenen entdecke ich, dass das Dorf mehr ist als ein hässlicher Bahnhof und eine Autobahnausfahrt. Und in Erstfeld erfahre ich, dass die Frauenrechtlerin Emilie Lieberherr hier geboren wurde. Für sie wurde eine simple Gedenktafel erstellt, für die Sagenfigur Tell in Altdorf ein Denkmal. Nicht alles ergibt Sinn in diesem Land.
Am nächsten Morgen drückt die Hitze schon früh, und als in Steinen die Strasse Richtung Sattel zu steigen beginnt, sinkt mein Tempo markant. Der erste Ort am Weg heisst Ecce Homo: «Siehe, der Mensch!» Ich setze mich auf die Bank vor der Kapelle und überlege, was für ein Bild als Mensch ich gerade abgebe. Meinetwegen hätte man wohl keine Kapelle gebaut.
Ein letzter Anstieg hoch zum Chatzenstrick, eine steile Abfahrt hinunter, dann stehe ich in Einsiedeln auf dem Klosterplatz. Der Mythos sagt, dass es der Ort mit den meisten Beizen pro Einwohner ist. Ich setze mich auf die Klostertreppe und beginne, von links nach rechts zu zählen: «Klostergarten», «Katharinahof», «Gelateria», «Sonne», «Tulipan», «Pfauen», «Drei Könige». In den Strassen dahinter: «Schiff», «La Fontanella», «Kebab-Hüsli», «Hofstatt». Beim Bundesamt für Statistik sind 63 Betriebe gemeldet.
Und während auf den Terrassen Pizza und Zürcher Geschnetzeltes serviert werden, in der Klosterkirche fünf Priester eine Messe zelebrieren und ein Mann eine Drohne über dem Kloster kreisen lässt, fülle ich am Brunnen mit der goldenen Madonna meine Trinkflasche und mache mich auf den Heimweg.
Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».
Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.
Sie haben interessanten Stoff für zahlreiche Berichte gesammelt: Gespräche mit spannenden Menschen, überraschende Entdeckungen, Einblicke in aktuelle Entwicklungen und schwelende Konflikte. Es geht um Heimat und Identifikation, um Trennendes und Verbindendes.