Leere Versprechen für Passagiere
Bahnreisende sollen eine Entschädigung erhalten, wenn sich der Zug stark verspätet. So will es der Bund. Nur: Profitieren wird praktisch niemand.
Veröffentlicht am 13. September 2019 - 11:09 Uhr,
aktualisiert am 13. Mai 2020 - 10:24 Uhr
Die Bahn muss mehr Kundenservice bieten – und trotzdem ist die Konsumentenschützerin sauer. «Das ist eine Farce!», schimpft Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz SKS. «Es werden Passagierrechte eingeführt, die dann trotzdem niemandem nützen.» Es zeige sich wieder einmal, wie gross der Einfluss der staatsnahen SBB auf die Bahnaufsicht sei. «Das kommt davon, wenn der Eigner sich selber überwacht.»
Wenn schon, sollen Bus- und Bahnkunden die gleichen Rechte wie im angrenzenden Ausland erhalten, sagt Stalder. Eine Forderung, die mit neuen Bestimmungen zusammenhängt, die der Bund kürzlich in die Vernehmlassung geschickt hat.
Die «Verordnung über die Organisation der Bahninfrastruktur» steht im Zeichen der Harmonisierung mit der EU. Informationspflicht, Haftung, Verspätungen oder verpasste Anschlüsse: Hier sollen Schweizer Passagiere gleiche Rechte erhalten wie in den Nachbarländern, begründet das Verkehrsdepartement Uvek. Es gehe um die «Stärkung der Passagierrechte im öffentlichen Verkehr».
Das ist bitter nötig. Heute beschwichtigen ÖV-Anbieter verärgerte Reisende lediglich mit «Sorry-Bons» und netten Worten – auf freiwilliger Basis. Eine Pflicht zur Entschädigung gibt es nicht. Das soll sich ändern.
Neu soll gelten: Wenn sich der Zug mehr als eine Stunde verspätet, erhält man mindestens 25 Prozent des Billettpreises zurück, bei mehr als zwei Stunden Verspätung mindestens 50 Prozent. Auch bei höherer Gewalt wie einem Erdrutsch oder Steinschlag sollen die Passagiere in Zukunft entschädigt werden, zum Beispiel mit Gutscheinen.
Klingt schön, doch die Vorlage aus dem Departement der ehemaligen Konsumentenschützerin Simonetta Sommaruga hat einen Haken: Sie nützt praktisch niemandem etwas. «Um den Aufwand für die Transportunternehmen in einem angemessenen Rahmen zu halten, sollen sie bei Rückforderungsbeträgen unter 10 Franken von der Entschädigungspflicht befreit werden», heisst es im Faktenblatt.
Das bedeutet: Nur wenn das Bahnbillett mehr als 40 Franken kostet, hat man bei einer Verspätung von ein bis zwei Stunden Anspruch auf Entschädigung.
Über diese Regelung können sich eigentlich nur SBB, BLS und Konsorten freuen. Sie schützt der Bund vor mühsamer Administration.
Wer als Kunde ein Halbtax hat und zweite Klasse fährt, profitiert jedoch höchstens in seltenen Ausnahmefällen. Das zeigt ein simples Beispiel: Von Luzern aus muss man mindestens nach Genf, Visp oder St. Moritz fahren, um entschädigungsberechtigt zu sein (siehe Karte).
Nur für ganz wenige Bahnfahrten innerhalb der Schweiz kostet ein halbes Einfachbillett mehr als 40 Franken. Bei allen anderen Zielen gehen die Bahnkunden leer aus. Hinzu kommt, dass es in der kleinräumigen Schweiz nur sehr selten zu Verspätungen von mehr als einer Stunde kommt.
Verspätete würden selten entschädigt
Ist die «Stärkung der Passagierrechte» am Ende eine Mogelpackung? Beim Bundesamt für Verkehr widerspricht man. «Nein, die Passagierrechte werden sehr wohl gestärkt», meint Sprecher Michael Müller. «Bisher waren die Kundinnen und Kunden auf den Goodwill der Transportunternehmen angewiesen. Neu haben die Fahrgäste einen Rechtsanspruch auf eine Entschädigung.» Das sei ein wichtiger Wandel gegenüber heute.
Im Übrigen seien die 10 Franken nur eine Mindestanforderung. Es stehe den Betrieben frei, weitergehende Regelungen zu erlassen. Zudem müssten die ÖV-Anbieter ihre Kunden über Verspätungen und Ausfälle neu zwingend informieren, eine Beschwerdestelle einrichten und bei Verletzungen oder Todesfällen von Passagieren einen Vorschuss leisten.
Auch Reisende mit Abo sollen profitieren, allerdings nur, wenn sie «wiederholt von Verspätungen und Ausfällen betroffen» sind.
Im entscheidenden Punkt will der Bund aber nicht mit der EU «harmonisieren»: Der Betrag, ab dem es Entschädigungen gibt, soll in der Schweiz sehr viel höher sein als in der EU. Dort liegt er bei 4 Euro. Sprich: Rückerstattungen gibt es bei Verspätungen über einer Stunde schon ab einem Ticketpreis von 16 Euro.
«Damit wird erreicht, dass Stadt- oder Vorortverkehr im Normalfall ausgenommen werden.»
Michael Müller, Sprecher Bundesamt für Verkehr
Der Unterschied ist gemäss Bundesamt für Verkehr Absicht. «Der etwas höhere Betrag in der Schweiz widerspiegelt die höheren Ticketpreise. Er soll aber auch den administrativen Aufwand bei kleinen Beträgen gering halten», sagt Sprecher Müller. Er gibt aber zu: «Damit wird erreicht, dass Stadt- oder Vorortverkehr im Normalfall ausgenommen werden.»
Es sei «tatsächlich zu vermuten, dass Entschädigungen wegen ÖV-Verspätungen in der Schweiz nicht zum Alltag gehören werden», sagt Müller. Auch weil es dank des dichten Takts fast immer Alternativen gebe, sodass man das Ziel mit weniger als einer Stunde Verspätung erreiche. Sofern Passagiere im Besitz von Abos seien, würden sie auch im Stadtverkehr von den Entschädigungsvorschriften profitieren können, ergänzt Müller.
Beim Preisüberwacher ist man derzeit zurückhaltend, beobachtet die Entwicklung aber aufmerksam: «Die richtige Höhe einer generellen Entschädigung ist sehr schwierig kalkulatorisch korrekt zu bestimmen und letztlich ein politischer Entscheid.» Die vorgeschlagene Mindestgrenze sei im Moment verhältnismässig. Aber: «In Zukunft werden es technische Fortschritte erlauben, die Rückabwicklungsprozesse zu vereinfachen und zu automatisieren. Sobald sich solche Möglichkeiten grossflächig anwenden lassen, ist die Senkung der Mindestgrenze für die Kompensation angezeigt. Wir behalten das im Auge.»
Die Debatte um Fahrgastentschädigungen geht in die nächste Runde. Die Stiftung für Konsumentenschutz SKS sowie der Verkehrsclub der Schweiz VCS üben heftige Kritik an der geplanten Fahrgastentschädigung – die wenigsten Reisenden würden davon profitieren. Die SKS fordert deshalb, zusammen mit den Westschweizer und Tessiner Konsumentenschutzorganisationen FRC und ACSI, dass der Betrag, ab dem eine Entschädigung erfolgen muss, höchstens fünf Franken betragen darf. Das entspreche in etwa demjenigen in der EU.
Zudem verlangen sie, dass:
- Kundinnen und Kunden mit Abos und Streckenbilletten nicht von der Entschädigungspflicht ausgenommen werden.
- es im Falle von Verspätungen unbürokratisch und rasch Entschädigung gibt.
- Konsumentinnen und Konsumenten nicht gezwungen werden, ihre Geolokalisierungsdaten offenzulegen.
- der Datenschutz gewährleistet wird.
Der VCS will ausserdem, dass andere dringende Verbesserungen für ÖV-Passagiere endlich umgesetzt werden sollen. Zum Beispiel beim Mitnehmen von Velos im Zug, beim Zwischenlagern von Gepäck am Bahnhof sowie beim mangelnden Stauraum in Fernverkehrszügen. Das seien die Problemfelder, die Bahnreisen gegenüber dem Privatauto beschwerlicher machen würden.
Der Bundesrat hat eine grosszügigere Entschädigung für Verspätungen im öffentlichen Verkehr beschlossen als in der Vernehmlassung ursprünglich geplant war. Neu soll der Mindestbetrag, ab dem die Unternehmen den Passagieren eine Entschädigung bezahlen müssen, bei 5 Franken liegen. Das hatten die Stiftung für Konsumentenschutz und der VCS gefordert.
Zudem verlangt der Bundesrat von der ÖV-Branche eine ausgewogene Lösung für Abo-Besitzerinnen und -Besitzer.
Die neuen Passagierrechte gelten ab 2021.
Mehr dazu: Medienmitteilung des Bundesrates
1 Kommentar
Beim Lesen des Artikels entsteht bei mir der merkwürdige Eindruck, dass man Verspätung erwünscht um Anspruch auf Entschädigung zu haben...