Rentner on the road
Die Pensionierung als Startschuss in ein neues Abenteuer: Sylvia Fäh und Michel Godart haben ihr Haus verkauft und sind ins Wohnmobil gezogen.
Veröffentlicht am 26. Juli 2024 - 12:21 Uhr
Kaum geht die Tür des Wohnmobils auf, stürmt ein junger Terrier hinaus. Ein Mann und eine Frau schlüpfen in Flipflops, die für solche Momente stets griffbereit neben der Tür hängen, dann laufen alle drei die paar Meter zum Strand hinunter, wo eine frische Brise geht und die Sonne den Abendhimmel gerade in ein goldenes Spektakel verwandelt.
Gwen-Du, so heisst der Hund, rennt wie von einer Wespe gestochen umher, buddelt Löcher in den Sand und bellt übermütig mannshohe Wellen an. Seine Ohren flattern im Wind.
Sylvia Fäh und Michel Godart sind beide 56 Jahre alt und leben seit zweieinhalb Jahren im Wohnmobil. An diesem Strand in Brignogan, der für seine urtümlichen, runden Felsen und den malerischen Leuchtturm bekannt ist, sind sie nicht zum ersten Mal. Sie mögen die Bretagne mit ihren wilden Küsten, den Hortensien vor den alten Steinhäusern und den feinen Crêpes und Galetten, die es an jeder Ecke gibt. Das Wetter wechselt hier mehrmals am Tag, manchmal ist es überraschend mild – wegen des Golfstroms –, dann wieder stürmt es, dass die Wellen gegen die Fischerboote krachen. «Dann ziehen wir die Kapuzen hoch und kommen uns ganz klein vor mitten in der Naturgewalt», schwärmen die Reisenden.
Brignogan-Plages ist auf ihrer Google Map mit einer roten Stecknadel markiert, wie unzählige weitere Städtchen, Strände, Nationalparks, Stell- und Campingplätze, die sie noch besuchen wollen. Die Route lassen sie sich von den Pins aber nicht diktieren. «Wir lassen uns einfach treiben», sagt Sylvia Fäh. Und Michel Godart ergänzt: «Wir fahren immer der Nase nach.» Meistens schauen sie beim Frühstück auf die Karte und entscheiden, ob sie die Sehenswürdigkeiten in der Nähe tatsächlich besuchen wollen.
Und nicht selten wurde ein Plan in letzter Minute wieder verworfen: Die vielgerühmte Sagrada Família in Barcelona haben sie dann doch nur von aussen angeschaut, weil die Tickets so teuer waren. Und die zugeparkte Strasse entlang der Ardèche hat sie so abgeschreckt, dass sie einfach weitergefahren sind. «Der Fluss springt uns nicht davon», sagten sie sich. «Vielleicht kommen wir mal in der Nebensaison hier vorbei.»
Als sie noch in der Schweiz sesshaft waren, arbeitete Sylvia Fäh im Büro und ihr Lebenspartner als Werkzeugverkäufer. Er war nicht mehr glücklich in seinem Job, hatte aber auch keine Energie mehr für einen Stellenwechsel. Ein bisschen an der Work-Life-Balance zu schrauben, hätte nichts gebracht. Für ihn war klar: «Es brauchte eine radikale Veränderung.»
Sylvia Fäh hatte nach dem Tod ihrer Eltern etwas geerbt, und so entschieden sie Ende 2019 – kurz bevor Corona in der Schweiz zum Thema wurde –, ihre Stellen zu kündigen und sich mit 53 Jahren selbst in Frühpension zu schicken. Nicht zuletzt weil sie einige Leute kennen, die sich jahrelang auf das Leben nach der Pensionierung freuten und die dann schwer erkrankten, bevor sie ihre Träume leben konnten. Das sollte ihnen nicht passieren.
Doch so planlos wie die meisten Auswanderer in der Fernsehserie «Auf und davon», die ihre Pensionskasse plünderten und dann erstaunt realisieren mussten, dass im Ausland niemand auf sie gewartet hatte, wollten sie auf keinen Fall vorgehen. Sie waren bereit, ihr Haus, zwei Autos und die Harleys zu verkaufen und den Lebensstandard runterzuschrauben – aber sie wollten genau wissen, ob das Geld auch wirklich reichen würde bis zur Rente. Inklusive einer Reserve für Unvorhergesehenes.
Dem Budget kam zugute, dass ihre Kinder aus früheren Ehen finanziell auf eigenen Beinen stehen und Nahrungsmittel und anderes, was man so braucht, im Ausland fast überall günstiger sind. Kleider würden sie fortan vor allem praktische und kaum neue brauchen, auf Zeitschriften- und Streamingabos können sie verzichten. Mit 3500 bis 4000 Franken im Monat sollten sie durchkommen, rechneten sie aus. Eine Beratung beim Vermögenszentrum bestätigte: Die Finanzierung sei solide.
Loslassen ist möglich
Aber natürlich bedeutet das auch: Das Vermögen wird verzehrt. Deshalb fragt man sich: Was halten die Kinder davon, wenn die Eltern gerade das Erbe der nächsten Generation verjubeln? Sie machen ihnen deswegen keine Vorwürfe, sind sich die beiden sicher. «Sie sehen das realistisch: Aufs Erben hat man keinen Anspruch», sagt Michel Godart. Und auch Sylvia Fäh hat kein schlechtes Gewissen. Sie hat lange unter dem Existenzminimum gelebt, als die Kinder noch klein waren. «Das Geld, das ich geerbt habe, hätte ich eigentlich damals gebraucht.»
Als sie sich zum radikalen Schritt entschlossen, wohnte nur noch ihr Jüngster bei ihnen. Der damals 21-Jährige war einverstanden, zu seinem Vater zu ziehen, der im selben Dorf, in Möhlin, lebte. Das Haus, in dem sie 20 Jahre lang gewohnt hatten, wurde verkauft, der Hausstand aufgelöst. Einiges konnten sie auf dem Flohmarkt zu Geld machen, anderes verschenkten sie.
Sie merkten: Loslassen ist möglich. Vieles, was man lange Zeit für unverzichtbar gehalten hat, braucht man gar nicht.
Richtig weh tat es, wenn sie für Dinge, die ihnen etwas bedeuteten, gar keine Interessenten fanden. Tadellose Kleider wanderten in die Kleidersammlung, Michel Godarts über Jahre hinweg gepflegte Sammlung von Rennsportbüchern landete gar im Müll. Sylvia Fäh musste die Augen schliessen, wenn sie alte Basteleien der Kinder oder Fotos von entfernten Verwandten wegwarf. Trotzdem merkten sie: Loslassen ist möglich. Vieles, was man lange Zeit für unverzichtbar gehalten hat, braucht man gar nicht.
Gleich zu Beginn übers Ohr gehauen
Was sie jetzt brauchten, war ein Wohnmobil. Sie entschieden sich für einen nigelnagelneuen Benimar Perseo 567. Das Fahrzeug war «nur» für ein Gesamtgewicht bis 3,5 Tonnen zugelassen – was kein Problem sei, versicherte ihnen der Händler auf mehrmaliges Nachfragen hin. Sie hätten genügend Zuladung für ein Leben on the road. Sie glaubten ihm. Um ein mulmiges Gefühl loszuwerden, fuhr Michel Godart sein neues Wohnmobil auf die Fahrzeugwaage eines Recyclingcenters. Wo ihn beinahe der Schlag traf: Es hatte bereits 80 Kilo Übergewicht, obwohl sie noch kaum etwas gepackt hatten. «Da wusste ich: Wir haben ein Problem», sagt er.
«Entweder begraben wir den Traum oder wir wechseln das Wohnmobil.»
Michel Godart, Rentner
Der Händler schaltete auf stur und wollte das Wohnmobil weder zurücknehmen noch eintauschen. Weil er sie nur mündlich falsch beraten hatte, hatten sie rechtlich nichts gegen ihn in der Hand. Also entschieden sie sich, das Fahrzeug auf 4,1 Tonnen aufzulasten und ihm neue Pneus, Felgen und eine bessere Federung zu verpassen. Das verursachte nicht nur Mehrkosten, es hatte auch zur Folge, dass das Lenken des Wohnmobils nun einen C1-Fahrausweis erforderte.
Godart war im Militär Lastwagenfahrer gewesen und konnte sich den Ausweis umschreiben lassen. Aber Fäh musste – als es nach dem Lockdown wieder möglich war – Fahrstunden nehmen und eine theoretische und eine praktische Prüfung ablegen.
Als diese bestanden und die Ausweise da waren, gings auf Testfahrt – coronabedingt in der Schweiz. Bald merkten sie, dass sie am Hang kaum anfahren konnten, weil der hintere Teil des Wohnmobils so schwer war. Im Bernbiet kam es auf einer steilen, aber trockenen Strasse ins Rutschen. Und als am Rickenpass bei Regen auch noch die Räder durchdrehten, löschte es Sylvia Fäh komplett ab. Das war schlicht zu gefährlich. «Entweder begraben wir den Traum», sagte sie. «Oder wir wechseln das Wohnmobil.»
Sie entschieden sich für Letzteres, verkauften den Benimar (mit Verlust) und kauften einen Hymer B MC-T580. Sieben Meter lang, mit doppeltem Boden, der als Stauraum dient und das Gewicht auf der ganzen Länge des Fahrzeugs verteilt. Kostenpunkt: 105'000 Franken, ab Stange. Die Wartefrist für einen individuellen Ausbau hätte über ein Jahr betragen.
Obwohl sie auf den Fernseher und den Backofen gern verzichtet hätten, hat sich das Wohnmobil bewährt. Einzig die standardmässig eingebauten dünnen Matratzen erwiesen sich als zu unkomfortabel. Zum Glück fanden sie in Spanien 1,90 Meter lange Matratzen, die perfekt ins Wohnmobil passten.
Jeder Zentimeter ihres Zuhauses ist optimal genutzt. Die Dusche dient bei Nichtgebrauch als Wäschekorb, unter der Sitzbank sind Büro und Logbuch – 642 Übernachtungen im Wohnmobil sind es bis heute – verstaut, im Backofen lagern Cenovis, Tomaten und Brot. Der Beifahrersitz kann zum Tisch gedreht werden. Zwischen Tisch, Spüle und Bett ist so wenig Platz, dass zwei Erwachsene kaum aneinander vorbeikommen. «So gibt es immer wieder Gelegenheiten für eine Umarmung», sagt Godart lächelnd.
Auch mal aufs Maul sitzen
Klar seien sie einander am Anfang manchmal auf den Keks gegangen, geben sie freimütig zu. Aber unterdessen wissen sie genau, wie sie miteinander umgehen müssen. Bei gereizter Stimmung sitzen sie aufs Maul und vertrauen darauf, dass sie Probleme besser in einem ruhigen Moment klären. Man müsse ehrlich sein, eigene Fehler zugeben und sich gemeinsam überlegen, wie man es in Zukunft besser machen könne. «Sonst funktioniert es nicht.»
Kaum ein Paar in ihrem Bekanntenkreis könnte sich vorstellen, ständig so «aufeinanderzuhocken». Allein die Vorstellung von so viel Nähe scheint Beziehungsstress auszulösen. Sylvia Fäh und Michel Godart hingegen hat die ständige Nähe noch mehr zusammengeschweisst. «Man ist sich bewusst, dass man aufeinander angewiesen ist.»
Dass sie sich beide für Ähnliches begeistern – lieber Natur als Stadt, lieber Architektur als Kunst – und sie ein grosses gemeinsames Hobby haben, erleichtert das symbiotische Zusammenleben. Ganze vier Rucksäcke mit Fotoausrüstung sind im Zwischenboden des Campers verstaut. Anfangs haben sie auf Instagram und auf ihrer Website fleissig über ihre Tour berichtet, mit der Zeit wurden sie nachlässiger. Eigentlich reicht es ihnen, die Eindrücke für sich selbst einzufangen.
Michel Godart zeigt ein paar Fotografien von Polarlichtern, die über einen stahlblauen Nachthimmel tanzen. Während ihrer dreimonatigen Reise durch den skandinavischen Winter hätten sie am Morgen das Wohnmobil ausgraben müssen, wenn es über Nacht geschneit habe. Über Pässe und durch Tunnel gings von Fjord zu Fjord, manchmal kürzten sie den Weg mit einer Fähre ab. «Wir sind oft nur dagestanden und haben gestaunt», sagt Sylvia Fäh.
Heimweh nach den Kindern
Aber wie geht man mit so viel Freiheit um? Kann das In-den-Tag-Leben nicht auch zur Herausforderung werden? Nicht für sie, versichern sie. Zudem sei ihr Tag ja durchaus strukturiert: Der Hund sorgt für regelmässige Bewegung an der frischen Luft. Die Lust auf frisches Brot gibt den Einkaufsrhythmus vor. Nach drei Tagen muss die Toilette geleert werden, nach fünf bis sechs Tagen wird der 180-Liter-Wassertank aufgefüllt. Zum Heizen, Kochen und für den Kühlschrank müssen sie Gas und fürs Fahren Diesel tanken. Geputzt und Wäsche gewaschen wird dann, wenns nötig ist oder wenn schlechtes Wetter einen mehrtägigen Halt auf einem Campingplatz nahelegt.
Zwei- bis dreimal im Jahr überkommt sie das Heimweh nach den Kindern und Michel Godarts Enkel, und sie fahren spontan in die Schweiz. Halt machen sie dann auf dem Campingplatz Jakobsbad im Kanton Appenzell, wo sie in einem Wohnwagen ein kleines Basislager eingerichtet haben.
Dass man nicht einfach so schnell bei den Kleinen vorbeigehen könne, sei schon ein Nachteil, meint der Grossvater. Der Jüngste ist erst ein halbes Jahr alt. «Für Videocalls sind sie noch zu jung, das funktioniert nicht.» Dennoch ist es für die Weltenbummler stimmig, auf ihr eigenes Leben zu fokussieren. Denn sie wissen: Ihre Kinder tun das auch. Als sie neulich in der Schweiz waren, sei mit dem einen Sohn nicht einmal ein Treffen zustande gekommen, erzählen sie schulterzuckend. Er hatte keine Zeit. Sie haben Verständnis dafür. Die Kinder sind eben eingespannt. Wie sie es früher auch waren.
Sollen sich Globetrotter am Wohnort abmelden?
Wer seinen Wohnsitz in der Schweiz behält, muss alle Einnahmen in der Schweiz versteuern. Eine Abmeldung kann daher steuerliche Vorteile haben. Wie und ob sich eine Abmeldung auf die Zulassung des Wohnmobils (Kontrollschild) auswirkt, muss mit dem Strassenverkehrsamt geklärt werden.
Was bedeutet das für die AHV und die Krankenkasse?
Wenn man noch nicht ordentlich pensioniert ist, muss man sich bei der AHV als nicht erwerbstätig anmelden und weiter einzahlen, will man keine Renteneinbussen in Kauf nehmen. Solange man keinen neuen Wohnsitz hat und wieder in die Schweiz zurückkehren möchte, behalten Langzeitreisende sogar bei einer Abmeldung vom Wohnort die Schweizer Krankenkasse.
Braucht es eine zusätzliche Krankenversicherung?
In EU/Efta-Ländern wird man gegen Vorweisung der Europäischen Krankenversicherungskarte (auf der Rückseite der Schweizer Versichertenkarte) nach den Vorschriften des jeweiligen Staats behandelt. Es werden aber nur Leistungen aus der Grundversicherung übernommen, und die Bedingungen sind überall anders. Eine zusätzliche Reisekrankenversicherung ist daher empfehlenswert. Für Kanada und die USA ist sie wegen der hohen Gesundheitskosten unerlässlich. Denn ausserhalb des EU/Efta-Raums werden Notfallbehandlungen nur bis zum doppelten Betrag der Kosten übernommen, die in der Schweiz vergütet werden.
Welche Versicherungen sind sonst noch wichtig?
Neben der zwingenden Fahrzeugversicherung sind hilfreich: Privathaftpflicht, Auslandrechtsschutzversicherung, Reiserücktrittsversicherung, Versicherung des persönlichen Eigentums sowie Pannenhilfe. Es gibt nationale und internationale Anbieter, die sich auf Reisende spezialisiert haben.
Hinweis: Dieser Text wurde erstmals im März 2023 publiziert.
5 Kommentare
Diese Eheleute machen es genau richtig. Geniesst Eure Rente u. Eure Reisefreiheit !
Mag es allen Rentnern gönnen!
Hallo Ihr beiden, ihr habt Recht und macht das toll. Aus finanziellen Gründen arbeiten wir bis 61 und hauen dann auch ab mit unserem Reisemobil. Und mit 63 lassen wir uns pensionieren....kein Bock mehr in der Schweiz sesshaft zu bleiben, denn die meisten nörgeln nur rum und wünschen einem nix Gutes. Kenne welche die sind über 60 und arbeitslos gemeldet, sie leben nur noch im Womo, reisen aber nicht soweit aktuell weil sie meist einmal im Monat zum RAF müssen.
Als ich habe mich zwei mal in der Schweiz abgemeldet. Beide mal war ich 6 Monate abwesend . Wegen der Arbeit und einmal wegen einem Schulaufenthalt. Das ging super gut.
Der sehr kurz gehaltene Kommentar unter "Sollen sich Globetrotter am Wohnort abmelden?" behandelt dieses sehr komplexe Thema nur äusserst oberflächlich und verleitet zu falschen Schlüssen.
Abmelden ohne neue Wohnsitznahme ist nahezu unmöglich
Bei einer Abmeldung die Fahrzeug-Zulassung beibehalten ist (wenn man korrekt vorgeht) nicht möglich.
Da stimme ich Ihnen zu. Dieser Punkt ist für das gesamte Thema zentral. Wie und wo versichere ich das Fahrzeug, wenn ich in der Schweiz (aus steuerlichen Gründen) abgemeldet bin - bin ich dann staatenlos? Das mit der KK ist geregelt, aber die meisten Banken lehnen eine notwendige Kontoführung ohne CH-Wohnsitz ab - auch da funktioniert es nur mit verschweigen und den Wohnsitz z.B. der Kinder für die Bankenkorrospondenz anzugeben. Dasselbe gilt für alle anderen Versicherungen, die alle einen Wohnsitz haben wollen. Also funktioniert das Ganze nur in einer Grauzone, die per se nur dann gut funktioniert, wenn nichts passiert. Dieses Thema wird vom Beobachter komplett ignoriert