Versicherung will Frau zwingen, Medikamente zu nehmen
Versicherungen wollen immer mehr mitreden bei der Behandlung. Der Beobachter erklärt, wie sich Betroffene wehren können.
Veröffentlicht am 11. Februar 2025 - 15:22 Uhr
Die Taggeldversicherung verlangte sogar Blutproben von einer Genferin, die an einer Depression litt.
Eine Genferin leitet ein Team und wird wegen eines Konflikts krank. Sie ist depressiv, sagt ihr Arzt und schreibt sie krank. Die Krankentaggeldversicherung bezahlt. Antidepressiva kommen für die Frau nicht in Frage. Zudem können chemische Antidepressiva viele Nebenwirkungen haben. Gegen Beschwerden wie Schlafprobleme nimmt sie pflanzliche Produkte.
Drei Monate später schickt die Krankentaggeldversicherung einen Brief, wie der «Kassensturz» berichtet. Sie müsse nun Antidepressiva nehmen. Damit die Versicherung kontrollieren könne, dass sie die Medikamente einnehme, müsse sie Blutproben einschicken.
Die Sache mit der Schadenminderung
Die Versicherung verweist auf die Pflicht der Versicherten, möglichst wenig Taggelder zu beziehen – die sogenannte Schadenminderungspflicht. Und auf ihre allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB): Dort stehe, dass Versicherte verpflichtet seien, Medikamente einzunehmen. Und Bluttests seien gesetzlich zulässig.
Die Frau will das nicht – aber sie hat Angst, die Leistungen zu verlieren. Zum Glück kann sie schnell genug wieder arbeiten und auf Taggelder verzichten.
Offener Brief an Bundesrätin Baume-Schneider
Immer mehr Betroffene erleben, dass Versicherungen sie drängen, bestimmte Medikamente oder Therapien zu akzeptieren, «oft gegen ihren ausdrücklichen Willen und entgegen medizinischen Empfehlungen». Das schreibt der Verband Avenir50plus Schweiz in seinem offenen Brief vom 4. Februar 2025 an Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider.
Versicherungen drohten, dass sonst Leistungen gekürzt oder gar gestrichen würden. Es soll verboten werden, dass Versicherungen und die Invalidenversicherung (IV) bei Medikamenten Druck aufsetzen. Doch wie ist die Rechtslage?
1. Welche Ansprüche haben kranke Angestellte?
Wenn Angestellte nicht mehr arbeiten können, muss der Betrieb den Lohn weiterzahlen – für drei Wochen bis mehrere Monate, je nach Kanton und Dienstjahren. Nichts bekommen jene, die noch nicht drei Monate im Betrieb waren. Viele Arbeitgeber haben eine Krankentaggeldversicherung abgeschlossen. Die zahlt zwar in der Regel nur 80 Prozent des Bruttolohns, dafür bis zu zwei Jahre lang. Massgebend sind der Arbeitsvertrag und die AVB der Versicherung.
2. Wer bestimmt, ob jemand zu krank zum Arbeiten ist?
Grundsätzlich die behandelnde Ärztin. Angestellte müssen beweisen, dass sie nicht arbeiten können, normalerweise mit einem Arztzeugnis. Darin müssen Beginn, Dauer und Grad der Arbeitsunfähigkeit stehen. Sowohl der Arbeitgeber als auch die Taggeldversicherung können verlangen, dass sich der Arbeitnehmer auch noch von einem Vertrauensarzt untersuchen lassen muss. Der Vertrauensarzt des Arbeitgebers darf diesem aber keine Informationen über die Diagnose geben.
3. Wie konnte die Versicherung der Frau aus Genf dann so genau wissen, woran sie erkrankt war?
Der Arbeitgeber hat keinen Anspruch darauf, die genaue Diagnose zu erfahren – sie fällt unter das Arztgeheimnis. Das gilt jedoch nicht gegenüber der Taggeldversicherung, denn die muss den Leistungsanspruch abklären können. Dazu muss die erkrankte Person eine Vollmacht unterschreiben und damit die behandelnden Ärzte und involvierte Behörden, etwa die IV, von der Schweigepflicht entbinden. Wer sich weigert, verletzt seine Mitwirkungspflicht und riskiert, dass die Taggeldversicherung die Leistung streicht oder kürzt.
4. Darf die Versicherung einem Medikamente und Bluttests aufzwingen?
Die IV darf das unter Umständen, hat das Bundesgericht entschieden. Das kann man aber nicht einfach auf die Krankentaggeldversicherung übertragen, sagt Rechtsprofessor Kurt Pärli gegenüber dem «Kassensturz». Denn die IV müsse in der Regel während vieler Jahre bezahlen, die Krankentaggeldversicherung maximal zwei Jahre. «Hier ist die Anforderung der Versicherung eindeutig übertrieben», sagt Pärli.
5. Wie können sich Betroffene wehren?
In einem ersten Schritt können sie von der Versicherung eine schriftliche Begründung verlangen, warum genau eine bestimmte Behandlung, ein bestimmtes Medikament aus ihrer Sicht nötig ist – gestützt auf welche Diagnose. Das kann man dann mit der behandelnden Ärztin besprechen. Und entsprechend versuchen, gegenüber der Versicherung zu argumentieren.
Wer so nicht weiterkommt, kann sich an den Ombudsman der Privatversicherung und der Suva oder an die Ombudsstelle Krankenversicherung wenden. Letztere ist nur zuständig, wenn die Versicherung auch eine obligatorische Krankenpflegeversicherung anbietet. Und bei der Rechtsberatung UP schätzen Anwältinnen und Anwälte für 100 Franken die Chancen ein und helfen, ein Schreiben an die Versicherung zu verfassen.
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