Auf Zehenspitzen schleicht sie ins Schlafzimmer und schaut, ob Töchterchen Mya noch schläft. Die Kleine kam im Januar zur Welt. «Sie ist das Beste, was mir je passiert ist», sagt Mélanie Bonnard und strahlt.

Die 32-Jährige ist alleinerziehend, sie schaffe das gut, Mya ist ein unkompliziertes Baby. Vor der Geburt arbeitete Bonnard als Verkäuferin. Nun sucht sie eine Stelle in einer Kita, wo auch die Tochter betreut werden könnte.

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Die Familie war entzweit

Im Mai wurde Mya getauft, im Kreis der Familie. Bonnards Mutter, die Schwester und ihr Bruder waren alle dabei. Bemerkenswert, denn jahrelang herrschte Funkstille zwischen Mutter und Tochter. Auch zur älteren Schwester hatte sie kaum Kontakt. Denn Mutter und Schwester glaubten ihr nicht, dass ein Domherr der ehrwürdigen Abtei Saint-Maurice sie missbraucht habe. Passiert sei es beim Taufessen von Bonnards kleinem Bruder im Jahr 2004, erzählt sie. Da war sie zwölf Jahre alt.

Bemerkenswert auch: dass Mélanie Bonnard ihre Tochter überhaupt taufen liess – trotz des Missbrauchsvorwurfs. «Ich habe mich versöhnt mit der Kirche und mit meiner Familie», sagt Bonnard. Mya sei nicht in Saint-Maurice getauft worden, sondern im Städtchen Monthey, woher Bonnard stammt.

«Meine Tochter soll selbst wählen»

«Es war eine schöne Feier – und ein wunderbarer Priester», sagt sie. Sie zeigt Fotos davon auf ihrem Handy. Es seien ja nicht alle Priester übergriffig und pädophil. «Meine Tochter soll einst selbst wählen, ob sie in der katholischen Kirche bleiben möchte.»

Mélanie Bonnard, Kandidatin für den Prix Courage 2024: Sie wirft einem Priester vor, sie missbraucht zu haben. Sie ging damit an die Öffentlichkeit. Inzwischen ist der Beschuldigte wieder im Amt.
Quelle: Andrea Zahler

Mélanie Bonnard selbst ist mit einer sehr religiösen Mutter aufgewachsen, die regelmässig zur Messe ging und in deren Weltbild einfach nicht passte, dass auch ein Gottesmann Unrechtes tun kann.

Gleich mehrere Missbrauchsvorwürfe gegen Chorherren

Die Abtei Saint-Maurice im Unterwallis, in der Nähe von Martigny, feierte im Jahr 2015 ihr 1500-jähriges Bestehen. Sie ist das älteste kirchliche Zentrum der Schweiz und beherbergt einen der reichsten Kirchenschätze Europas. In Saint-Maurice leben und lehren die Augustiner-Chorherren. 

Das Kloster steht nun in der Kritik. Gleich mehreren Chorherren werden sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Das enthüllte die Sendung «Mise au point» des Westschweizer Fernsehens RTS im November 2023. Im Beitrag stand Mélanie Bonnard mit Namen und Gesicht hin.

Ihr Mut habe weitere Opfer zu Aussagen über sexuelle Übergriffe im Kloster animiert, sagt Redaktor François Ruchti, der den Skandal aufdeckte und dafür mit dem Swiss Press Award 2024 ausgezeichnet wurde.

«Mit dem Finger in die Unterhose»

Vor kurzem doppelte «Mise au point» nach: Gegen denselben Chorherrn wie in Bonnards Fall gibt es weitere Vorwürfe. Er soll sich auch anderen Kindern gegenüber unangemessen verhalten haben. In der Sendung bestreitet er das, es gilt die Unschuldsvermutung. Die Polizei ermittelt. 

Rückblende: Schon in der Kirche bei der Taufe ihres Bruders sei ihr unwohl gewesen, erzählt Mélanie Bonnard. Der Priester habe sie umarmt. «Keine normale Umarmung, das war eklig.» Dann luden ihn ihre Eltern zum Taufessen zu sich nach Hause ein. Sie sei im Wohnzimmer mit dem kleinen Bruder und ein paar Cousinen und Cousins gewesen, ohne Erwachsene. Die Kleinen spielten zusammen.

«Als Strenggläubige konnte meine Mutter sich nicht vorstellen, dass ein Priester so etwas tun könnte.»

Mélanie Bonnard

Der Chorherr sei gekommen und habe sich aufs Sofa gesetzt, ihnen zugesehen. «Ich wollte an ihm vorbeigehen, da hat er mich von hinten umfasst, unter mein T-Shirt gegriffen und meine Brüste gestreichelt. Dann hat er mir unter dem Jupe in den Schritt gefasst, mit dem Finger in die Unterhose», sagt Mélanie Bonnard. Sie sei zuerst wie erstarrt gewesen, habe nicht einmal schreien können. Dann habe sie ihn in den Unterleib geboxt und sich losreissen können. Sie sei weinend in ihr Zimmer gerannt.

«Wir sind noch nicht fertig»

Wenig später sei ihr der Priester ins Zimmer gefolgt und habe gesagt: «Wir sind noch nicht fertig.» Er habe sie aufs Bett gedrückt. «In dem Moment rief meine Mutter ‹à table›, zu Tisch.» Sie habe sie damit gerettet, ohne es zu wissen. 

«Wer glaubt schon einem Kind? Es war mein Wort gegen das des Priesters.»

Mélanie Bonnard

Mélanie Bonnard erzählt ruhig. Einmal verkrampfen sich aber ihre Hände, und sie wirft die langen Haare wie einen Schutzschild vors Gesicht; sie erzählt vom Tod ihres Papas. – Ihr kranker Vater starb wenige Wochen nach der Taufe ihres Bruders. «Ich habe ihm nichts vom Übergriff erzählt, weil ich wusste, wie er reagieren würde.»

Ihr Vater hätte dem Täter etwas angetan, davon ist sie überzeugt. «Er hätte mir geglaubt und mich gerächt.» Das schwarze Röckchen, das sie damals an der Taufe trug, hat sie immer noch. Es sei eine Erinnerung an ihren Papa. Er hatte es ihr kurz vor der Taufe geschenkt. Sie zeigte es auch dem Priester bei der Konfrontation mit dem Vorwurf im Beichtstuhl. 

Das Strafverfahren wird eingestellt

Als Bonnard ihrer Mutter erzählte, was passiert sei, glaubte diese ihr nicht. «Als Strenggläubige konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein Priester so etwas tun könnte.» Der neue Partner ihrer Mutter habe aber zu ihr gehalten und diese überzeugt, mit ihr zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Er sagte, ein Mädchen, ein Kind, könne sich so etwas nicht so detailliert ausdenken. Man sehe ja, dass sie verstört sei.

«Ich erwarte, dass die Kirche anerkennt, was mir passiert ist.»

Mélanie Bonnard

Ein Gerichtspsychiater klärte Mélanie Bonnard ab und hielt ihre Aussagen für glaubwürdig. – Dennoch wurde das Strafverfahren 2005 eingestellt. Wie sich Jahre später herausstellen sollte, hatten Kirche und Justiz zusammengespannt. Der zuständige Staatsanwalt untersagte den Polizisten, im persönlichen Umfeld und in der Klosterschule zu ermitteln. Damit der Ruf des Domherrn – und des Klosters – nicht beschädigt werde.

Auch das machte die Sendung «Mise au point» publik und zeigte das betreffende Schriftstück im Fernsehen. «Es wundert mich gar nicht», sagt Mélanie Bonnard. Im Wallis seien alle miteinander verbandelt. «Wer glaubt schon einem Kind? Es war mein Wort gegen das des Priesters. Ich war chancenlos.»

«Ich war innerlich wie tot»

Die Sache liess sie als Jugendliche nicht los, sie litt, hatte häufig Wutausbrüche und Mühe mit Nähe. Sie brach den Kontakt zur Mutter ab. Als junge Erwachsene wollte sie die Mauer des Schweigens durchbrechen. «Ich war innerlich wie tot – ich musste handeln.» Ihr damaliger Freund half ihr, eine Kamera in der Form eines Schlüsselanhängers zu beschaffen. 

Unter falschem Namen meldete sich Bonnard im April 2016 bei ihrem ehemaligen Peiniger und bat um eine Beichte. «Wir kommunizierten per Whatsapp – aufgrund meines Profilbilds fand er, wir könnten doch etwas trinken gehen, statt uns in der Kirche zu treffen. Ich sei doch ‹une belle femme›, eine hübsche Frau.» Spätestens da sei ihr bewusst geworden, dass der Mann kein Unrechtsbewusstsein habe. «Das war widerlich.» Sie besteht auf einem Treffen im Kloster Saint-Maurice.

Während der Beichte heimlich gefilmt

Dort erzählt sie ihm ihre Geschichte. Sie filmt das Ganze heimlich mit der Kamera, die sie an ihrer Handtasche befestigt hatte. Im Video sieht und hört man, wie sie dem Priester schildert, was er ihr, als sie zwölf war, angetan habe. «Ich bin kein Psychologe, aber das scheint mir nicht allzu schlimm zu sein. Es war keine Vergewaltigung», antwortet er.

Da gibt Mélanie Bonnard ihre wahre Identität preis und zeigt ihr Röckchen von damals. «Erinnern Sie sich an mich?», fragt sie. «Nein», sagt er, als wäre nie etwas gewesen. Bonnard lässt nichts unversucht, reist sogar in den Vatikan, um die Sache zu melden. 

Die Kirche will «Tote vermeiden»

Das ist noch nicht alles. Der beschuldigte Priester tritt im Mai 2024 in einen Hungerstreik. Er will sein Amt wiederbekommen, das ihm wegen der Vorwürfe entzogen worden war. Er sagt, er sei das Opfer einer schmutzigen Medienkampagne, Mélanie Bonnard lüge. – Er wird darauf tatsächlich von den Kirchenoberen wieder eingesetzt, man wolle «Tote vermeiden».

Der Priester hat nun auch wieder mit Minderjährigen zu tun. «Man hat mir schon als Kind nicht geglaubt und jetzt als Erwachsene auch nicht», sagt Mélanie Bonnard. Sie ist erschüttert. «Ich erwarte, dass die Kirche anerkennt, was mir passiert ist.» Pädophile Priester dürften nicht mehr praktizieren. Sie hat eine Verleumdungsklage gegen den Priester eingereicht.

Mélanie Bonnard wird von welschen Opferhilfeorganisationen unterstützt. «Wir sind wirklich beunruhigt, was hier vorgeht», sagt Jacques Nuoffer, Präsident der Sapec-Gruppe, die sich für Missbrauchsopfer religiöser Autoritäten einsetzt. «Wie können Opfer noch den Mut haben, auszusagen, wenn die Kirche im Wallis so reagiert?»

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