Das hat der Beobachter 2022 bewegt
Der Beobachter deckt auf, kritisiert und regt an. Acht Beispiele, wie er die Schweiz ein bisschen besser gemacht hat.
Veröffentlicht am 22. Dezember 2022 - 14:22 Uhr
Überblick
- 1 – Gemeinden dürfen zweite Säule nicht anzapfen
- 2 – Entlassung in der Psychiatrie Münsingen
- 3 – Zürich zahlt allen Fürsorgeopfern 25'000 Franken
- 4 – Gefährliche Stoffe aus dem Verkehr gezogen
- 5 – Riskante Schulwege angeprangert
- 6 – Unsichtbare Labortiere sichtbar machen
- 7 – Strafbefehle: Eine erste kleine Korrektur
- 8 – Nach 60 Jahren sein Geld erhalten
1 – Gemeinden dürfen zweite Säule nicht anzapfen
Jahrelang schröpften Aargauer Gemeinden das Pensionskassenguthaben von Leuten, die Sozialhilfe zurückerstatten mussten. Ab dem 1. Januar dürfen sie das nicht mehr. Ein Sieg für die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht in einem Verfahren, das die Stiftung SOS Beobachter finanziell unterstützt hat.
Entscheidend war: Das Bundesgericht bekräftigte, dass die Bestimmungen im Betreibungsverfahren eingehalten werden müssen – die zweite Säule ist nur beschränkt pfändbar. Konkret ging es um den Fall einer heute 64-jährigen Frau, den der Beobachter 2020 öffentlich gemacht hatte. Ihre Wohngemeinde beharrte darauf, dass sie Sozialhilfegelder von 66'500 Franken zurückzahlte, das gesamte Altersguthaben der Frau.
Um die Sache abzuschliessen, machte sie der Gemeinde wiederholt Vergleichsangebote in fünfstelliger Höhe – und erhielt nicht einmal eine Antwort. Stattdessen leitete die Gemeinde die Betreibung ein und zog sie bis vor das Aargauer Obergericht. Auf dessen Anweisung wurde dann endlich die pfändbare Quote berechnet: Fr. 337.85. Schliesslich konnte sich die Gemeinde doch noch bei der früheren Sozialhilfebezügerin bedienen: In einem letzten Vergleich willigte sie ein, 4500 Franken zurückzuzahlen.
2 – Entlassung in der Psychiatrie Münsingen
Anfang Februar deckte der Beobachter auf, dass der ärztliche Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen mehrere Mitglieder der umstrittenen, sektenähnlichen Kirschblütengemeinschaft aus dem Solothurnischen eingestellt hatte. Mit einer der Frauen war er liiert.
Die Aufsichtsbehörde leitete darauf eine Untersuchung ein – sie stellte zudem systematische ungerechtfertigte Zwangs- und Isolationsmassnahmen gegen Patientinnen fest. Die verantwortlichen Therapeuten waren überzeugt gewesen, sie vor «satanistischen Ritualen» schützen zu müssen. Der ärztliche Direktor wurde entlassen.
3 – Zürich zahlt allen Fürsorgeopfern 25'000 Franken
Es ist ein bisher einmaliger Vorgang. Als erste Stadt der Schweiz entschädigt Zürich die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Bisher hat das nur der Bund getan. Zürich will allen einen Solidaritätsbeitrag von 25'000 Franken entrichten, die vor 1981 von den städtischen Fürsorgebehörden in Anstalten gesperrt wurden oder Zwangsarbeit verrichten mussten.
Der Zürcher Stadtrat erkennt damit an, dass die Gemeinden mitschuldig sind an den menschenrechtswidrigen Praktiken. Die Recherchen des Beobachters über die Zwangsarbeit von «Versorgten» für Emil Bührle haben die Zahlung ausgelöst und eine Aufarbeitung angestossen.
4 – Gefährliche Stoffe aus dem Verkehr gezogen
Findige Geschäftsleute preisen übers Internet Chemikalien als Heilmittel an, zum Beispiel Chlordioxid. Ein Händler aus dem Kanton Zug verkaufte die ätzende Chemikalie in Tablettenform – mit dem Versprechen, sie heile die unheilbare Lungenkrankheit COPD.
Nachdem der Beobachter über den Fall berichtet hatte, schritt die Heilmittelbehörde Swissmedic ein und verbot den Verkauf. Vielfach sind Behörden aber machtlos, weil die Verkäufer geschickt Gesetzeslücken nutzen. SP-Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo wollte deshalb vom Bundesrat wissen, ob man das Recht verschärfen könne. Nein, beschied er.
5 – Riskante Schulwege angeprangert
Was sind die häufigsten Gefahren auf Schulwegen? Wo befinden sich heikle Stellen? Hinweise darauf sammelte der Beobachter mit der Aktion «Achtung Schulweg!» – gemeinsam mit der Rechercheplattform Correctiv Crowd Newsroom. Knapp 600 Personen haben mitgemacht.
Die Daten zeigen, dass Eltern überhöhte Geschwindigkeit als grösste Gefahr wahrnehmen, gefolgt von zu viel Verkehr und fehlender Sicht. Ein Drittel gab zudem an, dass die Behörden untätig blieben, obwohl Verbesserungen gefordert wurden. Wir berichten weiter über das Thema und unterstützen Betroffene bei Eingaben an Behörden.
6 – Unsichtbare Labortiere sichtbar machen
Anfang Jahr stimmte die Schweiz über ein Verbot von Tierversuchen ab. Im Abstimmungsbüchlein stand, dass eine halbe Million Labortiere jedes Jahr für Experimente eingesetzt werden. Recherchen des Beobachters zeigten, dass etwa doppelt so viele Tiere getötet werden.
Sie sterben ohne konkreten Nutzen für die Wissenschaft – während der Zucht. Es gebe keine gesetzliche Grundlage, diese Statistik der unsichtbaren Labortiere zu publizieren, hiess es beim zuständigen Bundesamt. Nach einem Vorstoss im Parlament wird nun eine Anpassung der Tierschutzverordnung geprüft.
7 – Strafbefehle: Eine erste kleine Korrektur
In der Schweiz sitzen Menschen im Gefängnis, ohne dass sie wissen, warum. Diesen Missstand deckte der Beobachter im Frühling auf. Schuld ist das sogenannte Strafbefehlsverfahren.
Staatsanwältinnen und -anwälte können in Eigenregie Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten aussprechen – ohne ein Gericht überzeugen zu müssen. Sie müssen dafür die Beschuldigten weder gesehen noch angehört haben. Nun hat das Parlament beschlossen, dass die Beschuldigten immerhin einvernommen werden müssen, wenn eine Gefängnisstrafe droht.
8 – Nach 60 Jahren sein Geld erhalten
Als Frédéric S., ehemaliges Heimkind, seine Familiengeschichte aufarbeitete, stiess er auf mehrere Bankkonten, von denen er nichts wusste. Die Stadt Biel hatte bis zu seiner Volljährigkeit 1962 seine Bankkonten verwaltet, das Geld aber nie an ihn weitergeleitet. Belegt ist nur, dass die Gemeindebehörde die Konten bei den Banken saldieren und das Guthaben in die Stadtkasse transferieren liess; nach heutigem Wert etwa 27'000 Franken.
Als Frédéric S. das Geld zurückverlangte, blitzte er ab. Erst als sich der Beobachter einschaltete und weitere Dokumente vorlegte, zeigte sich Biel versöhnlich und zahlte ihm pauschal 20'000 Franken aus.
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