«Das Wort ‹Bruder› hatte keine Bedeutung für mich»
Gastarbeitern war es verboten, ihre Kinder mit in die Schweiz zu nehmen. Das führte dazu, dass Tausende von den Eltern im Heimatland zurückgelassen wurden. Auch der Bruder von Carmine Andreotti. Er erzählt von einem Geschwister mit denselben Eltern, aber einem ganz anderen Leben.
Veröffentlicht am 14. November 2022 - 17:20 Uhr
→ Direkt zum Hörspiel «Welcher Art die Wärme ist» von Carmine Andreotti, Paola De Martin und Melinda Nadj Abonji.
Aufgezeichnet von Jasmine Helbling
Bis 2002 regelte das Saisonnierstatut die Aufenthaltsbewilligung für ausländische Arbeitende in der Schweiz. Dieses verbot Gastarbeitern, ihre Kinder und Ehefrauen mitzunehmen. Aufgrund dieser scharfen Regelung wurden viele Familien während Jahren getrennt. Wie viele Kinder ohne ihre Eltern im Heimatland aufwuchsen oder illegal in der Schweiz lebten, ist unklar. Offizielle Zahlen gab es bisher nicht.
Nun kommt eine Untersuchung zum Schluss, dass in der Schweiz zwischen 1949 und 1975 fast 50’000 Kinder versteckt leben mussten. Das schreibt das «NZZ Magazin».
Der Migrationshistoriker Toni Ricciardi hat im Rahmen eines Projekts des nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» die Fälle von italienischen Gastarbeitern untersucht. Zum «NZZ Magazin» sagt Ricciardi: «Die Kinder durften typischerweise drei bis sechs Monate als Besucher bleiben. Oft wurden sie dann heimlich wieder zurück über die Grenze gebracht.»
50’000 illegale Kinder in der Schweiz
Nebst den 50’000 illegalen Kindern in der Schweiz gab es jene, die im Herkunftsland zurückgelassen und dann meist von den Grosseltern betreut wurden. Ricciardi geht von einer halben Million Betroffenen aus.
Einer dieser Zurückgelassenen war der Bruder von Carmine Andreotti. Seine Eltern kamen in den 50er-Jahren als italienische Arbeitsmigranten in die Schweiz. Dem Beobachter erzählt er seine Geschichte als Kind von Saisonniers.
«Mein Bruder musste in Italien bleiben. Er blieb mir und den Eltern lange ein Fremder.»
Carmine Andreotti, 58, Historiker
«Plötzlich stand dieser Bub in der Küche. Ich war fünf, er fünfzehn. Ich kam vom Spielen, er aus Italien. Mein Bruder. Das Wort hatte keine Bedeutung für mich. Nicht in Verbindung mit ihm. Wir hatten dieselben Wurzeln, aber verschiedene Leben. In der Küche trafen sie aufeinander.
Meine Eltern waren 1954 aus Kampanien in die Schweiz gekommen. Der Vater als Gärtner, die Mutter als Haushälterin. In der Heimat gab es keine Jobs. Einreisen durfte man nur mit Arbeitsvertrag, das Saisonnierstatut verbot den Familiennachzug. Mein Bruder, damals sechs Monate alt, musste bei den Grosseltern bleiben. In den Ferien besuchten wir ihn. Einmal stritten wir um ein verlottertes Velo. Das kam mir in den Sinn, als er 1969 in der Küche stand.
Von da an lebten wir zu viert. Er mochte die Doors, stand Stunden vor dem Spiegel. Gespielt haben wir nie, der Altersunterschied war zu gross. Er blieb mir und den Eltern lange ein Fremder. Nach fünf Jahren ging er wieder, für einen Job im Tessin.
Der Bruder war weniger allein
Wer von uns hatte es besser? Darüber sprechen wir nicht. Wir hätten vermutlich verschiedene Antworten. Ich sehe es so: Er hatte in Italien Freunde und Verwandte. Die Grossmutter, die immer zu Hause war. Ich war oft allein.
In der Schule war ich der einzige Ausländer und wurde als ‹Tschingg› beschimpft. Es war die Zeit der Schwarzenbach-Initiative. Wir nähmen Schweizern die Jobs weg, hiess es. Wir seien laut und dreckig. Keine Woche verging, in der ich mich nicht prügelte. Und keine Lehrerin kam dazwischen. Aber ich wusste schon da: Die können mir nichts. Ich legte mir einen Panzer zu.
Mit 15 bekam ich den Schweizer Pass. Ich sah keinen Unterschied zu vorher. Nach dem Gymer studierte ich Geschichte und Soziologie. Die Eltern gaben ihr Geld für meine Bildung aus. Vater hätte selbst gern studiert. Ich lebte seinen Traum – mit allem Druck, der dadurch entstand.
Später arbeitete ich beim Übersetzungsdienst. Aus dem Büro im Bundeshaus sah ich aufs Elend: auf Drogendealer, Süchtige, Italiener und Freunde. Viele starben. Schuld war die innere Zerrissenheit. Der Hass, das Fremdsein. Ich hätte einer von ihnen sein können, es hätte wenig gebraucht.
«Ich bin Schweizer und Italiener. Ich muss mich nicht entscheiden.»
Carmine Andreotti, 58, Historiker
Ich arbeitete weiter als Übersetzer und gründete eine Familie. Als ich 30 war, erkrankten die Eltern. 2006 zogen sie zurück nach Italien, einen Monat später starb meine Mutter. Das brachte uns näher, den ‹Brüetsch› und mich. Seither haben wir viel Kontakt.
Verpasste Chancen
Ich hörte von Saisonnierkindern, die wütend auf ihre Eltern sind. Bin ich es auch? Ich habe mir die Frage oft gestellt. Beide waren in der Arbeit gefangen. Sie gaben mir wenig Zeit, dafür viel Liebe. Das war genug. Vor ein paar Jahren starb mein Vater. Ich hätte noch viele Fragen gehabt. All die verpassten Chancen, Erinnerungen – für immer verloren.
2019 las ich im Beobachter über das Schicksal der Saisonniers. Im Artikel wurde ein Schreibkurs für Betroffene erwähnt, aus Neugier ging ich hin. Ich schrieb auf Italienisch, so wurden die Sätze dichter, natürlicher, emotionaler. Ich fand es schön, sie den anderen vorzulesen. Zu merken, was sie auslösen.
Mein Text ist nun Teil eines Hörspiels (siehe Infobox) geworden. Auf Deutsch übersetzt, von Schauspielern gesprochen. Das Ergebnis überraschte mich. Erinnerungen, Musik, Geschichte, Politik – das alles ist verwoben. Das Hörspiel ist beklemmend, aber auf eine gute Art. Es geht unter die Haut.
Ich bin froh, dass ich nicht mehr jung bin. Ich bin zufrieden mit meinem Leben und habe mit meiner Frau noch viele Projekte. Wir werden auswandern, neu anfangen – wie meine Eltern damals. Mit einem wichtigen Unterschied: Wir gehen freiwillig.
Wer bin ich? Die Frage wird mich immer begleiten. Egal, wohin ich gehe. Aber nun kenne ich die Antwort: Ich bin Schweizer und Italiener. Ich muss mich nicht entscheiden. Ich bin ich – und das ist genug.»
Das Hörspiel ist aus Texten von Carmine Andreotti, Paola De Martin und Melinda Nadj Abonji entstanden. Sie alle schreiben über ihre Erinnerungen, Fremdenhass und späte Familienzusammenführungen. Über die eigene Illegalisierung durch das Saisonnierstatut. «Welcher Art die Wärme ist» wurde von der deutschen Akademie der darstellenden Künste zum Hörspiel des Monats Oktober 2022 erkoren. Es kann hier gratis gehört werden:
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