Ein leuchtendes Beispiel
In Münsterlingen TG brannten im Juli und August nachts durchgehend die Strassenlaternen. Bis dem Gemeinderat ein Licht aufging.
Veröffentlicht am 13. Oktober 2023 - 11:13 Uhr
«Offenbar haben sich Personen gemeldet, dass die Dauerbescheinung störend ist.»
«Thurgauer Zeitung», 13. September 2023
Wer unter Paranoia leidet, landläufig Verfolgungswahn genannt, hat oftmals Angst vor Dingen, die gar nicht da sind. So lässt sich zumindest der Entscheid des Münsterlinger Gemeinderats erklären, im Juli und August nachts im ganzen Dorf die Lichter brennen zu lassen.
Mit psychischen Krankheiten kennt man sich in Münsterlingen aus. Die Gemeinde ist vor allem als Standort der gleichnamigen psychiatrischen Klinik bekannt. Möglicherweise verbirgt sich auch eine Allmachtsfantasie hinter dem Entscheid. Kein Geringerer als Gott soll schliesslich am ersten Tag der Schöpfung gesprochen haben: «Fiat lux – es werde Licht!»
Vielleicht, das muss man der Behörde zugutehalten, sorgte sich der Gemeinderat ernsthaft um das Wohl der Bevölkerung. Jedenfalls handelte er wahnsinnig vorausschauend. Die nächtliche Beleuchtung sollte den Bürgerinnen und Bürgern ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Eine Infoveranstaltung hatte gezeigt: Viele von ihnen fürchteten sich vor den 120 Asylsuchenden, die im ehemaligen Blindenzentrum im Dorfteil Landschlacht leben sollten. Man beachte die Verbform, sie weist in die Zukunft. Denn weder im Juli noch im August hat auch nur eine einzige schutzsuchende Person einen Fuss in das neue Durchgangsheim gesetzt.
Warum man annimmt, dass Menschen auf der Flucht gefährliche Kriminelle sind, die man möglichst gut ausleuchten muss, sei einmal dahingestellt. Immerhin ging dem Gemeinderat Ende August doch noch ein Licht auf. Sogar zwei: Nachdem sich die Leute über die taghellen Münsterlinger Nächte beklagt hatten, erkannte er die brennenden Laternen angesichts nicht vorhandener Asylsuchender als Energieverschwendung und knipste das Licht nachts wieder aus.
Und er blieb dabei, obwohl kurz darauf eine erste Flüchtlingsfamilie eintraf. Man wolle schliesslich keine unnötigen Ängste schüren, sagte Gemeindepräsident Hans-Jörg Saner der «Thurgauer Zeitung». Und so sind in Münsterlingen die Nächte also wieder finster – und die Gedanken hell.