Haben Sie sich schon einmal einsam gefühlt? In der Weihnachtszeit kann sich das Gefühl am schmerzhaftesten bemerkbar machen – nicht nur für Seniorinnen und Senioren.

Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass etwa 57 Prozent der Europäerinnen und Europäer zwischen 18 und 35 Jahren mindestens «moderat einsam» sind, 17 Prozent davon sogar «stark einsam». Es ist ein Trend, der sich bereits seit einigen Jahren zeigt.

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Der Beobachter spricht mit Regula Häberli, einer Psychotherapeutin, die seit 30 Jahren sowohl junge als auch ältere Patienten behandelt und sich intensiv mit dem Thema Einsamkeit beschäftigt.

Zur Person

Regula Häberli, was ist eigentlich Einsamkeit?
Viele verwechseln Einsamkeit mit dem Alleinsein. Man hört zum Beispiel: «Ich fühle mich so allein.» Tatsächlich entsteht Einsamkeit, wenn man keine oder zu wenig Verbindung spürt. Man verliert gewissermassen den Draht zu sich selbst, aber auch zu anderen.


Was ist also der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit?
Man kann sich sehr einsam fühlen, obwohl man von Menschen umgeben ist. Dann denkt man: «Ich passe hier nicht rein, niemand interessiert sich für mich.» Das kann sogar noch quälender sein als ein tatsächliches Alleinsein. Es ist denn auch sehr anstrengend, unter Leuten zu sein, zu denen man gehören möchte, aber keinen Anschluss findet – auch wenn man sich darum bemüht. 

«Ich habe einen 94-jährigen Götti, der sagt: ‹Ich habe viele Freunde – auf dem Friedhof.›»

Jugendliche sind laut einer neuen Studie stark von Einsamkeit betroffen. Wer ist grundsätzlich gefährdet?
Natürlich gehören ältere Menschen zur Risikogruppe, sie sind weniger mobil, ihr Freundeskreis beginnt zu sterben. Ich habe einen 94-jährigen Götti, der sagt: «Ich habe viele Freunde – auf dem Friedhof.» Gefährdet sind aber auch junge Leute, die sehr unsicher sind, oder diejenigen, die Schwierigkeiten haben, soziale Kontakte aufzunehmen und zu pflegen.


Woher kommt Einsamkeit bei Jugendlichen?
Es passiert etwa in der Schule: Man ist der einzige schwule Junge in der Klasse oder die kleinste Schülerin, oder man hat eine Krankheit – etwas, was einem das Gefühl gibt, nicht dazuzugehören. Manchmal wird man vielleicht gar nicht von anderen ausgegrenzt. Stattdessen sind es die eigenen Gedanken, die hemmen.

«Freundlich sein, Anerkennung geben – das kann viel bewirken.»

Gibt es dafür ein Beispiel?
Wenn ich denke: «Die findet mich bestimmt unsympathisch», dann ist diese Sorge in den meisten Fällen komplett unbegründet. Man unterschätzt, wie sehr man selbst aktiv werden kann. Freundlich sein, Anerkennung geben – das kann viel bewirken.

Anlaufstellen für Betroffene

Haben soziale Medien Einfluss auf die Einsamkeit?
Durch Social Media haben junge Menschen jederzeit alles zur Verfügung. Das gibt ihnen die Illusion, soziale Kontakte zu pflegen. Dabei sind es eher Ablenkungen von realen Kontakten – sie sind dadurch sogar stärker gefährdet als ältere Menschen. Ausserdem ist das Scrollen im Internet eine Ablenkung von sich selbst, man vergisst: «Was wollte ich eigentlich? Was empfinde ich gerade?»


Ist die Einsamkeit der jüngeren Generation ein Thema, das gesellschaftlich zu wenig beachtet wird?
Die Jungen denken vermutlich selbst: «Als Teenie sollte ich nicht einsam sein, das ist etwas, was alte Leute betrifft, nicht mich.» Dabei kann man sich in jedem Alter und in jedem Lebensabschnitt einsam fühlen. Meiner Erfahrung nach ist es aber häufig die Altersgruppe ab 30, die erstmals eine Therapie besucht.


Weshalb?
Es ist das Alter, in dem einige feststellen, dass sich Erfahrungen wiederholen. Sie hinterfragen, ob es bestimmte Verhaltensweisen und Muster gibt, die das mitbewirken und die sie ändern möchten. Jugendliche hingegen sind in ihrer Persönlichkeit noch viel weniger gefestigt, sie fühlen sich sehr oft gepusht und verspüren einen Druck von aussen, sich anzugleichen. Das kann auch in Richtung Leistungsdruck gehen: Mit ihrem Umfeld fühlen sie sich dann eher im Konkurrenzkampf, als befreundet zu sein.

«Alle fühlen sich einmal einsam. Trotzdem kann man etwas dagegen unternehmen.»

Haben Sie Tipps, an wen Jugendliche sich wenden können?
Es ist schwierig, konkrete Ratschläge zu geben, ohne den Ursprung des Problems zu kennen. Wichtig sind aber Angebote, die jungen Menschen auf Augenhöhe begegnen. Geleitete Gruppenangebote geben Sicherheit und eine Routine, man kann sich darauf verlassen, dass sie immer stattfinden. Das können Jugendtreffs sein, aber auch Jugendhäuser. Am wichtigsten finde ich, dem Ganzen eine Normalität zu geben: Alle fühlen sich einmal einsam, da kommt man als Mensch nicht dran vorbei. Trotzdem kann man etwas dagegen unternehmen.


Wie können solche Angebote aussehen? 
In Zürich gibt es viele Präventionsprojekte, die auch das Thema Einsamkeit behandeln. Beispielsweise helfen Klassenbesuche mehr, als man denkt, besonders wenn es um Aufklärung geht. Gerade bei Fragen zur neu aufkommenden Sexualität fühlen sich viele allein. Jugendliche wissen nicht, wo sie ihre Fragen platzieren können. Aber wenn Fachleute eine Anlaufstelle bieten, stärkt diese das Selbstwertgefühl.


Finden Sie, dass es genügend Angebote gibt, die Einsamkeit bekämpfen?
Mehr Angebote wären immer besser. Die Nachfrage nach Psychotherapien ist gross, und viele haben Schwierigkeiten, jemanden zu finden. Das ist auch ein Grund, weshalb ich nach der Pensionierung noch weiterarbeite.

Quellen