In den letzten 14 Monaten wurden für die Inklusionsinitiative 105’000 gültige Unterschriften gesammelt – genug, um das Volksbegehren Anfang September offiziell einzureichen. 

«Es war ein langer Weg bis zu diesem Punkt», sagt Daniel Graf von der Stiftung für direkte Demokratie, einer der Trägerorganisationen. Graf streicht besonders das Engagement der Direktbetroffenen heraus. «Vor allem die Menschen mit Behinderungen waren es, die bei Wind und Wetter unterwegs waren, um die nötigen Unterschriften zu sammeln.»

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«Elementare Ungerechtigkeiten»

Die Inklusionsinitiative will die «rechtliche und tatsächliche Gleichstellung» der rund 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung in der Schweiz erreichen. Dafür sollen sie Anspruch auf Anpassungs- und Unterstützungsmassnahmen erhalten. Weiter soll die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gefördert werden. 

Bis das Stimmvolk über eine entsprechende Verfassungsänderung befinden kann, wird es noch eine ganze Weile dauern, sicher zwei Jahre. Aber die Zeit bis dahin sei wichtig, findet Markus Schefer, Professor für Staatsrecht an der Universität Basel. «Es wird eine öffentliche Debatte über die Rechte von Menschen mit Behinderungen geben. Sie wird der Bevölkerung vor Augen führen, wie viele elementare Ungerechtigkeiten heute noch bestehen.» Das sei den Leuten zu wenig bewusst. 

«Die heutige Landschaft der Institutionen muss sich ändern.»

Markus Schefer, Professor für Staatsrecht, Universität Basel

Schefer sitzt seit 2019 im Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und gilt als einer der Väter der Inklusionsinitiative. Von ihr erhofft er sich, dass der politische Wille «erheblich zunehmen wird», den Verpflichtungen aus der Behindertenrechtskonvention (BRK) der Uno nachzukommen. Die Schweiz hat dieses Abkommen 2014 ratifiziert, aber in zahlreichen Punkten nicht umgesetzt.

Eine der zentralen Forderungen der BRK betrifft die freie Wahl der Wohnform und des Wohnorts. Diese Selbstbestimmung ist heute in der Schweiz nicht gegeben. «Die heutige Landschaft der Institutionen muss sich ändern», sagt Markus Schefer. «Menschen mit Behinderungen dürfen nicht mehr in Heimen versorgt und dort verwaltet werden.»

Wohnfreiheit als Grundrecht

Die Inklusionsinitiative sieht vor, die freie Wahl der Wohnform Ausziehen trotz Beeinträchtigung «Ich will selber entscheiden, wo und wie ich lebe» explizit in die Verfassung aufzunehmen. Dass auch Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben, solch wichtige Entscheide für ihre Lebensführung selbst zu treffen, ist für Staatsrechtler Schefer «ein Grundrecht».

Wie viel es bei dem Thema noch zu tun gibt und wie stark es den Betroffenen unter den Nägeln brennt, zeigt der Inklusionsindex der Pro Infirmis. Demnach räumt sich fast jeder zweite Mensch mit Behinderungen kaum oder gar keine Chancen ein, einen auf die persönlichen Bedürfnisse abgestimmten Wohnraum zu finden. 

Politik spricht zu wenig über Behinderte

Insgesamt ergab die 2023 erstmals durchgeführte Befragung, dass sich vier von fünf Menschen mit Handicap in mindestens einem Lebensbereich in ihrer Teilhabe stark eingeschränkt fühlen: Knapp drei von vier der 1433 befragten Personen mit einer Behinderung fühlen sich von der Politik ungenügend repräsentiert. 

Rund jeder zweite Mensch mit Behinderung glaubt, keine guten Chancen auf eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt zu haben.

Politikerinnen und Politiker sprechen ihrer Ansicht nach zu wenig über Menschen mit Beeinträchtigungen und tun zu wenig für sie. Der zweithäufigste Kritikpunkt an der aktuellen Situation betrifft die Arbeit: Rund jeder zweite Mensch mit Behinderung glaubt, keine guten Chancen auf eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt zu haben. Und ein Drittel der Befragten erlebt bei der Nutzung des öffentlichen Verkehrs Einschränkungen.

Der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ist noch weit.