«Wir müssen das Undenkbare denken»
Die Gefahrenkarten im Misox werden neu beurteilt. Den Prozess beschreibt der zuständige Geologe Andreas Huwiler.
Veröffentlicht am 5. Juli 2024 - 10:26 Uhr
Die Unwetter im Misox, im Wallis und im Tessin zeigen: Manchmal entstehen Schäden auch dort, wo man sie nicht erwartet. Dann müssen die Gefahrenkarten angepasst werden. Aber auch Vorgaben des Bundes oder neue Modelle zur Beurteilung von Gefahrenprozessen können ausschlaggebend sein. Im Kanton Graubünden werden Anpassungen durch das Team von Andreas Huwiler vorgenommen.
Wie gehen Sie bei der Überarbeitung der Gefahrenkarte vor?
Bei einem kleineren Ereignis analysieren wir, ob wir die Gefahr im Vorfeld richtig eingeschätzt haben. Als kleines Ereignis gilt etwa, wenn ein Stein sich in einer Felswand löst und in Richtung Siedlungsgebiet fällt. Solche oder ähnliche Ereignisse passieren mehrere Hundert Mal im Jahr. Je nach Ergebnis kann das zur Folge haben, dass wir die Gefahrenzone neu kartieren oder zusätzliche Massnahmen planen.
Im Misox drangen grosse Geröllmengen in Bereiche vor, die nicht zur Gefahrenzone gehörten. Wie kam es dazu?
Ein solch grosses Ereignis müssen wir zuerst analysieren: Woher kam das Material? Weshalb hat es sich gelöst? Wo hat es sich abgelagert? Dabei schätzen unsere Experten unter anderem ein, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass so ein Fall wiederkehrt: alle 30, 100 oder 1000 Jahre? Würde sich herausstellen, dass ein solches Ereignis etwa alle 1000 Jahre vorkommen könnte, würden die Karten allenfalls nicht angepasst. Im Misox wissen wir teilweise aber bereits, wo Überprüfungen nötig sein könnten, und prüfen weitere Massnahmen.
Zur Person
Wie lange dauert der Prozess?
Normalerweise ist es ein langer Prozess. Im Misox haben wir aber nicht die Zeit dazu, da wir möglichst bald Lösungen brauchen, zum Beispiel für die Kantonsstrasse in Sorte. Aktuell laufen manche Prozesse also parallel ab. Wir hoffen, dass die Ereignisanalyse Mitte August abgeschlossen ist. Danach überprüfen wir, wo die Karten angepasst werden müssen.
Wie oft beurteilen Sie die Gefahrenkarten neu, wenn nichts passiert ist?
Etwa alle 10 bis 15 Jahre wird die Gefahr neu eingeschätzt. Aber wir überwachen die Entwicklungen dauernd. Neben den technologischen Fortschritten müssen wir heute auch die Auswirkungen des Klimawandels mit berücksichtigen. Wir arbeiten mit den Klimaszenarien des Bundes. Was bedeutet das für unser Gebiet, wenn es plötzlich doppelt so intensiv regnet? Hier müssen wir Annahmen treffen und auch an das Undenkbare denken. Also an Ereignisse, die bisher vielleicht noch nie beobachtet wurden.
Wie können Sie die Bevölkerung für künftige Fälle besser schützen?
In den roten Gefahrenzonen setzen wir – wo möglich – auf Schutzbauten. In Fällen, in denen diese nicht flächendeckend möglich sind, gibt es in der Regel organisatorische Massnahmen. Eine davon ist die Evakuierung von potenziell betroffenen Personen bei Lawinengefahr. Bei Naturgefahren im Sommer – etwa Gewittern – sind die Vorhersagen häufig noch zu wenig präzise. Das Gewitter im Misox wurde mit Gefahrenstufe 3 angekündigt, erhebliche Gefahr. Solche Warnungen erhalten wir in den Sommermonaten etwa 30- bis 40-mal. Dann jedes Mal die Bewohner zu evakuieren, wäre unverhältnismässig.
Warum darf man denn überhaupt in den roten Gebieten wohnen?
Hier ist es wichtig, zu wissen: Wenn wir von den Gefahrenzonen sprechen, dann ist damit eine Gefahr für Bauwerke und Infrastruktur gemeint, nicht für Menschen. Personen im Freien sind durch ein Ereignis bereits in einem gelben oder blauen Gefahrengebiet massiv gefährdet. In gelben und blauen Zonen sind die Bewohner, wenn die Häuser gut gebaut sind, grösstenteils innerhalb der Gebäude sicher. Es gehört aber auch ein Stück Eigenverantwortung dazu: Personen, die in diesen Gebieten sind, müssen sich der Gefahr bewusst sein und sollten wissen, wie sie sich bei Gefahr verhalten sollten.