Zürcher Opfer von Zwangsmassnahmen sollen 25’000 Franken erhalten
Zürcher Kantonsrätinnen wollen ehemaligen Verdingkindern und Heimkindern Geld auszahlen. Eine Beobachter-Briefaktion ist der Auslöser.
Veröffentlicht am 21. Januar 2025 - 17:27 Uhr
Andrea Ludwig kämpfte unermüdlich für einen Solidaritätsbeitrag des Kantons Zürich.
Ein dringliches Postulat im Zürcher Kantonsrat könnte den Durchbruch bringen. Fünf Parteien wollen den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 «rasch und unkompliziert» jeweils 25’000 Franken auszahlen.
Die Koalition aus Alternativer Liste, SP, Grünen, EVP und GLP hat im Zürcher Kantonsrat eine knappe Mehrheit. Sie will die «historische Mitschuld und die Mitverantwortung der Zürcher Behörden am grossen Leid der Betroffenen» anerkennen.
Brief bringt Kantonsrätin zum Nachdenken
Gehandelt haben die Kantonsrätinnen, weil sie einen Brief bekommen haben. Andrea Ludwig aus dem Zürcher Oberland sowie andere Betroffene haben im November 2024 gemeinsam mit dem Beobachter Briefe an verschiedene Kantonsparlamentarier geschrieben, um auf die Ungleichbehandlung aufmerksam zu machen.
«Ich wusste nicht, wie gross die Ungleichbehandlung der Opfer durch die Kantone und Gemeinden ist.»
Lisa Letnansky, Zürcher Kantonsrätin (Alternative Liste)
Denn heute gibt es eine Zweiklassengesellschaft unter den Opfern. Wer in der Stadt Zürich «versorgt» worden ist, erhält 25’000 Franken mehr als alle anderen Betroffenen, im Kanton Schaffhausen soll das in wenigen Monaten auch der Fall sein. Denn nur dort gibt es eigene Solidaritätsbeiträge.
«Stossende Ungleichbehandlung»
Kantonsrätin Lisa Letnansky von der Alternativen Liste bezeichnet das als stossend. «Ich wusste nicht, wie gross die Ungleichbehandlung der Opfer durch die Kantone und Gemeinden ist.» Erst Andrea Ludwig habe sie darauf aufmerksam gemacht.
Es sei unhaltbar, dass Opfer unterschiedlich hohe Solidaritätsbeiträge erhalten, je nachdem, welche Behörde die Zwangsmassnahme angeordnet habe, sagt Letnansky.
«Ich habe nie aufgegeben und die Hoffnung nie verloren.»
Andrea Ludwig, Opfer von Zwangsmassnahmen
Wenn Zürich als bevölkerungsreichster Kanton der Schweiz einen eigenen Solidaritätsbeitrag ausrichtet, könnten andere Kantone unter Druck kommen. Denn das Thema ist auch in den Kantonen Aargau, Luzern, Bern oder St. Gallen hängig. Mit unterschiedlichen Erfolgschancen.
Zürich hat Geld, Bern angeblich nicht
Die Berner Regierung, die am meisten Betroffene in ihrem Kanton zählt, will keinen eigenen Solidaritätsbeitrag zahlen. Das zeigt ein Brief vom Dezember 2024 an Betroffene, der dem Beobachter vorliegt. Bern habe keine Mittel dafür, man bitte um Verständnis, heisst es darin. Pikant: In Zürich scheint das Geld kein Problem zu sein. Man plant, dieses dem bestehenden Gemeinnützigen Fonds zu entnehmen.
Der Vormund liess Andrea Ludwig knapp ein Jahr lang «zur Umerziehung» ins Frauengefängnis Hindelbank sperren.
Andrea Ludwig ist deshalb zuversichtlich für alle Kantone. Sie haute mit 13 Jahren nach einem sexuellen Übergriff aus ihrem Zuhause im Zürcher Oberland ab. 1977, als 15-Jährige, wurde sie von der Stadtpolizei Zürich zwei Wochen lang in die Jugendzelle 1 im Keller der Polizeikaserne eingesperrt, wie der Beobachter berichtete.
Ihr Vormund aus dem Zürcher Oberland «versorgte» sie in Heimen und liess sie schliesslich knapp ein Jahr lang «zur Umerziehung» ins Frauengefängnis Hindelbank sperren – obwohl Andrea Ludwig nichts verbrochen hatte und es kein Gerichtsurteil gegen sie gab.
«Kampf hat sich gelohnt»
«Ich bin dankbar, dass Kantonsrätinnen und Kantonsräte sich für uns Opfer einsetzen. Es ist schön, zu erleben, dass uns jemand wahrnimmt und unterstützt», sagt Andrea Ludwig. Sie wohnt heute im Kanton Graubünden, schlägt sich mit einem bescheidenen Einkommen durch und engagiert sich mit Vorträgen an Hochschulen dafür, dass die menschenrechtswidrigen «Versorgungen» von Verdingkindern und Heimkindern nicht vergessen gehen.
«Viele von uns stehen finanziell schlecht da, weil sie ohne Berufsabschluss ins Leben starten mussten», sagt sie. Das wirkt sich laut Studien oft lebenslang aufs Portemonnaie aus. «Man hat uns genommen, was für andere normal war: eine Lehre zu machen oder mindestens einen Schulabschluss», sagt Ludwig.
Andrea Ludwig sieht sich in ihrem unermüdlichen Engagement gegen das Vergessen bestätigt: «Es zeigt, dass Kämpfen sich lohnt. Ich habe nie aufgegeben und die Hoffnung nie verloren. Ich hoffe, dass es nun schnell geht mit der Auszahlung des Solidaritätsbeitrags, weil viele von uns schon sehr alt sind.»
Die Eidgenossenschaft hat die Schuld des Staates gesetzlich verankert: «Der Bund anerkennt, dass den Opfern Unrecht zugefügt worden ist, das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat.»
Der Kanton Thurgau zahlt Opfern von Medikamentenversuchen in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen seit dem 1. Januar einen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25’000 Franken aus. Betroffene können beim Staatsarchiv ein Gesuch einreichen.
Für alle anderen Zwangsmassnahmen-Opfer des Kantons Thurgau gibt es aber kein zusätzliches Geld.
3 Kommentare
«Der Kanton Thurgau zahlt Opfern von Medikamentenversuchen in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen seit dem 1. Januar einen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25’000 Franken aus. »
Das darf doch auch erwähnt werden.
Man darf aber auch nicht vergessen, wie dieser finanzielle Solidaritätsbeitrag zustande gekommen ist. Das war ein jahrelanger Kampf mit viel Arbeit von mir als Betroffener, an mir wurden als Kind in den 1960er Jahren in Münsterlingen Medikamente getestet. Seit 2013 kämpfe ich für eine Aufarbeitung und finanzielle Entschädigung für die Opfer von Medikamentenversuchen in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen. Auch habe ich immer wieder Briefe geschrieben, wie dem Regierungsrat, den politischen Parteien, den Fraktionen vom Kanton Thurgau und an andere Politikerinnen und Politiker und Personen in der Schweiz. In diesen Jahren führte ich einige erfolgreiche Gespräche auch mit Politikerinnen und Politiker und jetzt endlich tut sich etwas. Das war ein langer Kampf, ich habe nie aufgehört, auch dann nicht als manche Leute zu mir gesagt haben; ‘chasch nöd emal ufhöre mit dem’. Ich habe es einfach ignoriert und weitergemacht, auch wenn diese Personen nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Mir war es wichtig, dass wir Opfer von den Medikamententests von Kuhn und der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen eine finanzielle Entschädigung erhalten, für das Unrecht und das Leid, das uns damals angetan wurde.
Walter Emmisberger
Danke Frau Ludwig für ihren Einsatz und die Ausdauer. Ich hoffe, mit dem Batzen können Sie sich etwas gönnen, was Ihnen fest am Herzel liegt. Auch dem Beobachter sei an dieser Stelle gedankt, dass er sich dieser Geschichte angenommen hat und ich hoffe sie nimmt ein gutes Ende.
Vielen herzlichen Dank fùr ihre worte herzliche grùsse A.Ludwig