Die Wanderwege waren offen, als der Berg kam. Am 23. August 2017 hatte der Bergsturz von Bondo acht Alpinisten im Südbündner Seitental Bondasca verschüttet. Bis heute fehlt von ihnen jede Spur.

Wanderwege trotz Alarmzeichen offen gelassen

Jetzt erhebt die Bündner Staatsanwaltschaft Anklage gegen fünf Personen «wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung». Die Anklageschrift ist zwölf Seiten lang, datiert vom 22. Juli und liegt dem Beobachter über die Angehörigen vor.

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Angeklagt sind zwei Mitarbeiter des Bündner Amts für Wald und Naturgefahren (AWN) sowie ein vom Amt beauftragter externer Geologe. Sie alle waren involviert bei der Gefahrenbeurteilung vor dem Bergsturz. Das AWN hatte der Gemeinde knapp zehn Tage vor der Katastrophe empfohlen, die Wanderwege offen zu lassen.

Nach dem Unglück wiesen die Behörden jede Schuld von sich.

Auch zwei Vertreter der Gemeinde Bregaglia sind angeklagt, darunter die damalige Gemeindepräsidentin und heutige FDP-Nationalrätin Anna Giacometti. Sie leitete damals den Gemeindeführungsstab, der am 14. August 2017 der Empfehlung des AWN folgte und auf eine Wegsperrung verzichtete.

Angehörige gingen vor Bundesgericht

Nach dem Unglück im Sommer 2017 hatten verschiedene Medien die Eigenverantwortung der Alpinisten betont. Die Behörden wiesen jede Schuld von sich.

2019 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. «Unvorhersehbar» sei der Bergsturz gewesen, niemand sei verantwortlich für den Tod der Alpinisten. Nur weil sich die Angehörigen bis vor Bundesgericht wehrten, musste der Fall neu aufgerollt werden.

Unabhängiges Gutachten bringt Wende im Bondo-Fall

Die Wende brachte letztes Jahr ein unabhängiges Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft, das die Angehörigen der Opfer vor Gericht erkämpft hatten. Auch dank der Arbeit des Beobachters. Er deckte in mehreren Artikeln die Alarmzeichen vor dem Bergsturz auf und liess renommierte Fachleute zu Wort kommen, die ein unabhängiges Gutachten forderten.

Das Gutachten zeigte: Der Bergsturz hatte sich angekündigt.

Die Staatsanwaltschaft stützt sich bei der Anklage auf dieses Gutachten, verfasst vom Westschweizer Geologen Thierry Oppikofer. Der Beobachter hatte über den brisanten Inhalt des 60-seitigen Dokuments vor Weihnachten berichtet. Darin kommt Oppikofer zum Schluss, dass sich der Bergsturz «durch zahlreiche Vorboten angekündigt» hatte.

Was steht im brisanten Gutachten?

Zwar sei der Zeitpunkt unklar gewesen, doch ein Bergsturz habe in den nächsten Tagen «nicht ausgeschlossen» werden können. Das Risiko für Todesfälle sei «inakzeptabel» gewesen, deshalb hätten die Wanderwege gesperrt werden müssen.

Staatsanwaltschaft erhebt Anklage wegen fahrlässiger Tötung

Für die Bündner Staatsanwaltschaft haben die fünf Angeklagten «pflichtwidrig eine falsche Einschätzung der Gefahrenlage» vorgenommen. «Insbesondere hätte sich kurzfristig eine vorsorgliche Sperrung der gefährdeten Zutrittswege aufgedrängt», heisst es in der Anklageschrift.

Es sei aufgrund von Berechnungen klar gewesen, «dass der Bergsturz die Wanderwege zwischen Alp Laret und Lera-Parkplatz, wo sich die getöteten Berggänger befanden, überschütten und dabei allfällige Personen zu Tode kommen könnten». Mit der vorsorglichen Sperrung der Wege wäre der Tod der Berggänger «mit grösster Wahrscheinlichkeit vermieden worden».

Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren möglich

Anfang Mai hatte die Staatsanwaltschaft die Betroffenen über die geplante Anklage informiert und ihnen die Möglichkeit eingeräumt, neue Beweise vorzulegen. Die Vertreter des AWN sowie der vom Amt beauftragte Geologe kritisieren das Gutachten scharf und stützen sich auf selbst eingeholte Kurzgutachten.

Die Angeklagten argumentieren mit der Eigenverantwortung der Wanderer.

Sie argumentieren, auf einem solchen Wanderweg gelte ein hohes Mass an Eigenverantwortung, die Grenze zum inakzeptablen Risiko sei nicht überschritten gewesen.

Auch gehen die Meinungen darüber auseinander, was als Vorbote des Bergsturzes zu werten ist und was nicht. Das Regionalgericht Maloja in St. Moritz muss nun entscheiden, ob jemand eine Schuld trifft oder niemand einen strafrechtlich relevanten Fehler gemacht hat.

Bei einer fahrlässigen Tötung sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe vor.