Der Mann, dem nichts mehr gelingen wollte
Zweimal hat ein Gericht die Aargauer IV-Stelle schon zurückgepfiffen, weil sie einem Pechvogel die jahrelang gezahlte Rente strich. Gebracht hat es ihm nichts: Seit fünf Jahren muss er aufs Sozialamt.
Veröffentlicht am 27. April 2015 - 10:20 Uhr
Dies ist die Geschichte von einem wahren Glückspilz. Von einem, der schon in jungen Jahren fand, wonach andere ein Leben lang suchen: die ganz grosse Liebe.
Doch dies ist auch die Geschichte von einem, der mit bohrendem Blick am Tisch sitzt, im Kaffee rührt und sagt: «Ich habe alles verloren.» Von einem, der das Unglück anzieht.
Die Pechsträhne erfasst Raffaele Picariello an einem sonnigen Tag im Frühherbst 1979. Der Sohn eingewanderter Italiener ist 23 Jahre jung und bis über beide Ohren verliebt in Ingrid, die jeden hätte haben können, aber ausgerechnet ihn auserwählte. Ihn, den Glückspilz. Der Automechaniker aus dem Aargau, der eine eigene kleine Garage führt, ist auf seiner Yamaha XS 500 unterwegs – einer Strassenmaschine, damals etwas vom Gefragtesten unter Töfffahrern. Kurz nachdem er von einem Tankstopp in die Hauptstrasse biegt, passiert es: ein Biker, der auf der Hauptstrasse fährt, kracht mit ihm zusammen. Sein Helm fliegt weg und er hinterher.
Dann wird es dunkel um Raffaele Picariello. Sehr dunkel. Und sehr lange. Als er das erste Mal wieder blinzelt, hält Ingrid seine Hand. Er liegt im Spital, kann weder sprechen noch gehen. Fast drei Monate sind seit dem Unfall vergangen. Wochenlang lag er im Koma – und danach ist alles anders. Beim Zusammenstoss erleidet Picariello ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Hirnblutung, seine rechte Hirnhälfte wird geschädigt. «Ich musste alles wieder neu lernen – reden, schreiben, gehen», erzählt der heute 59-Jährige.
Damit nicht genug. Der Mietvertrag für seine Garage war ihm gekündigt worden. Durch einen Bekannten findet er bald ein neues Lokal, ein Reinfall. «Es war eine Bruchbude, die ich zuerst auf eigene Kosten richtig einrichten musste. Als alles fertig war, verlangte der Vermieter einen horrenden Mietzins», ärgert sich Picariello noch heute.
Er zieht bis vor Bundesgericht, erstreitet sich eine bezahlbare Miete und nimmt seine Arbeit wieder auf – geplagt von Schmerzen, Konzentrationsschwächen und Gedächtnisstörungen. Maximal vier Stunden schafft er am Stück, dann braucht er Pausen in immer kürzeren Abständen.
Lange geht das nicht gut: Ein Jahr nach dem Unfall muss Picariello einsehen, dass seine Kräfte nicht ausreichen, um einen eigenen Betrieb zu führen. Er nimmt Jobs in anderen Garagen an – und verunfallt immer wieder bei der Arbeit. Einmal zieht er sich eine Zerrung zu, dann eine Prellung, ein anderes Mal bricht er sich einen Finger. Nichts will ihm, dem einstigen Glückspilz, mehr gelingen.
Auch sein Wesen verändert sich. Aus geringstem Anlass kann er plötzlich von null auf hundert kommen, er ist aufbrausend, ungerecht, manchmal gemein. «Er selber merkt das gar nicht, man muss ihn darauf hinweisen, aber Fremde können damit schlecht umgehen», sagt seine Ingrid, die ihn – trotz allem und erst recht – 1987 geheiratet hat.
Mit diesem Temperament geht es bei der Arbeit jedenfalls nirgendwo lange gut. Picariello wechselt die Stellen etwa alle fünf Monate. Schliesslich beantragt er eine IV-Rente. Im Arztbericht der neurologischen Klinik heisst es: «Ausgeprägte Konzentrationsschwäche mit ungenügender Fehlerkontrolle, geringe Belastbarkeit, ausgeprägte sprachliche und figurale Frischgedächtnisstörung und eingeschränkte kognitive Flexibilität.» Und: Mit einer Verbesserung könne nicht mehr gerechnet werden.
Das sieht die IV auch so und spricht ab 1989 eine volle Rente.
Raffaele Picariello und seine Ingrid lassen sich von diesen schlechten Aussichten nicht unterkriegen. Sie gründen eine Familie – trotz allem und erst recht. Zwei Söhne kommen zur Welt, der erste 1989, der zweite 1991.
Ihre Liebe muss vieles aushalten, denn Picariellos Pechsträhne reisst nicht ab. Im Gegenteil: 1993 wird er auf dem Velo von einem Auto angefahren, stürzt wieder auf den Kopf, ist kurz bewusstlos und verletzt sich den linken Fuss. Gleichzeitig stellen die Ärzte eine chronische Hepatitis C fest, die er sich wohl 1979 bei der Bluttransfusion im Spital eingefangen hatte.
Zwei Jahre später kommen starke Rücken- und Nackenschmerzen hinzu, vermutlich als Folge der Unfälle und der damit verbundenen schiefen Körperhaltung. 1996 stürzt Picariello mit dem Mountainbike – und verletzt sich die rechte Hand und den rechten Fuss. 2002 wird er als Beifahrer bei einem Unfall aus dem Auto geschleudert. Er bricht sich den Oberschenkelhals und erleidet ein weiteres Schädel-Hirn-Trauma.
Ab 2003 plagen Picariello zunehmend die Gelenke. Er kann morgens kaum aufstehen, weil die Hüften blockiert sind. Sein rechtes Bein fühlt sich instabil an. Die Nackenschmerzen dehnen sich auf die rechte Schulter aus, später kommt das linke Knie hinzu, die Diagnose: Arthrose. Seine Gedächtnis- und Konzentrationsschwächen und sein cholerisches Wesen bleiben. Die IV überprüft die Rente 1993, 1995, 2000 und 2005 und kommt immer zum gleichen Schluss: Raffaele Picariello ist nicht arbeitsfähig.
Das ändert sich jäh mit dem Inkrafttreten der 5. IV-Revision 2008. Bei der finanziell und imagemässig angeschlagenen Invalidenversicherung ist Sparen angesagt – und Picariello bekommt das zu spüren. Im Jahr 2009 wird er aufgeboten zum Gespräch mit einem Arzt des regionalärztlichen Dienstes der IV. Seine Beschwerden sind weiterhin dieselben. Das sagt er auch dem Arzt. Doch er erzählt dem Doktor auch, dass er seinem älteren Sohn, der ebenfalls Automechaniker ist, hie und da aushelfe, dass er ins Fitness gehe und schwimme, um die Schmerzen zu lindern, und dass er im Garten sein eigenes Gemüse ziehe.
Für den IV-Arzt ist deshalb klar: Der Mann ist agil. Starke körperliche Einschränkungen will er beim Untersuch keine bemerkt haben, schliesslich habe Picariello ohne Probleme längere Zeit sitzen, ohne grössere Beschwerden gehen, sich auf die Arztliege legen und aufstehen können. Auch Konzentrationsschwächen fallen dem Mediziner nicht auf. Nach einem dreistündigen Gespräch und ohne in Erwägung zu ziehen, nach all den Jahren das geschädigte Hirn von einem Facharzt untersuchen zu lassen, schreibt er Picariello kurzerhand gesund.
Der IV kommt das gelegen: Nach fast 20 Jahren streicht sie dem mittlerweile 54-Jährigen im Frühling 2010 die Rente. Picariello muss auf das Sozialamt. Sein Einfamilienhaus muss er notgedrungen dem Bruder übertragen. Finanziell kommt die Familie mehr schlecht als recht über die Runden. Aber klein beigeben ist nicht seine Sache: Picariello reicht Beschwerde ein gegen die Verfügung der IV.
Dann, Ende 2011, ein Lichtblick. Das kantonale Verwaltungsgericht gibt ihm recht. Der medizinische Sachverhalt sei nicht genügend abgeklärt worden, ein Facharzt hätte überprüfen müssen, ob die Hirnverletzungen noch die beklagten Auswirkungen zeigten oder ob sich eine Besserung ergeben habe. Die IV muss bei einer medizinischen Abklärungsstelle (Medas) ein Gutachten in Auftrag geben, das alle Fachbereiche abdeckt.
Eine Woche lang fährt Picariello in die Uniklinik nach Basel. Täglich stellt ihm ein anderer Arzt die gleichen Fragen. «Ich weiss nicht, was das sollte», sagt er. Er empfindet es als Schikane.
Auch den Medas-Ärzten erzählt er von seinen Aktivitäten. Am Ende bescheinigen sie ihm eine sogenannte «Aggravation». Auf Deutsch: Er hat zwar viele Beschwerden, doch diese kommen ihm wahrscheinlich schlimmer vor, als sie tatsächlich sind. Belegen können sie diese Annahme nicht. Zudem verstricken sie sich in Widersprüche. So schreibt der Psychiater, er könne nicht feststellen, ob sich Picariellos Zustand verändert habe, weil er zuvor nie psychiatrisch untersucht worden sei. Auch der Neuropsychologe kann nicht beurteilen, ob sich bei Picariello etwas verbessert hat. Dennoch steht im Hauptgutachten, aus psychiatrischer wie neuropsychologischer Sicht zeige sich «eine deutliche Verbesserung» des Zustands.
Die IV überliest die Widersprüche geflissentlich und konzentriert sich auf das, was ihr entgegenkommt: dass Picariello agil sei und seine Beschwerden gar nicht so schlimm sein können, wie er das sehe. Also hält sie an der Aufhebung der Rente fest und geht davon aus, dass Picariello, der seit 24 Jahren nicht mehr im Berufsleben steht, einen Job finden kann. Immerhin bietet sie ihm eine Arbeitsvermittlung an – wenn er ein Gesuch stellt.
Picariello, seit drei Jahren sozialhilfeabhängig, zieht erneut vor Gericht. Dieses gibt ihm im Juni 2014 zum zweiten Mal recht. Die Richter bezeichnen das Medas-Gutachten als nicht schlüssig. Sie rügen die IV, weil sie die Rente strich, ohne vorher Eingliederungsmassnahmen zu prüfen. Das ist nach Bundesrecht zwingend, wenn jemand mehr als 15 Jahre eine Rente bezogen hat oder älter als 55 ist.
Picariello wackelt auf dem Stuhl leicht hin und her. Langes Sitzen bereitet ihm Schmerzen. Beim Gehen zieht er das rechte Bein nach. «Es gäbe noch so viel zu erzählen», sagt er immer wieder. Doch dann vergisst er, was er sagen wollte. Er zeigt auf die zerschlissenen Möbel, das Sofa ist mit einem Tuch bedeckt, damit es nicht ganz so schlimm aussieht. «Mir geht es gesundheitlich nicht besser als vor fünf Jahren, wieso erhalte ich plötzlich kein Geld mehr?»
Für seinen Anwalt Patrick Stutz ist der Fall typisch und speziell zugleich. Typisch, weil die IV zunehmend Renten streiche, Betroffene jahrelang im Ungewissen lasse und faktisch an die Sozialhilfe abschiebe. Speziell, weil ein Gericht die IV zweimal in Folge rügt und sich für den Betroffenen trotzdem nichts ändert. «Herr Picariello ist ein Opfer des IV-Apparats», sagt er.
Die IV-Stelle Aargau ist sich keiner Fehler bewusst. «Wenn ein Gericht einem Gutachten den Beweiswert aus rechtlichen Gründen abspricht, heisst das noch nicht, dass die medizinischen Abklärungen aus fachärztlicher Sicht widersprüchlich oder unschlüssig sind, sondern dass für die abschliessende rechtliche Beurteilung zusätzliche Informationen benötigt werden», sagt Mediensprecherin Elefteria Xekalakis.
Jüngst hat Raffaele Picariello wieder Post erhalten von der IV. Sie will jetzt Eingliederungsmassnahmen prüfen – so verlangen es die Richter. Picariello und seine Ingrid schauen sich nur vielsagend an: «Nimmt mich ja wunder, wo die mich eingliedern wollen.» Er habe alles verloren, sagt er erneut. Das stimmt nicht ganz. Seine Ingrid, die seine Hand hält, ist geblieben. Seine grosse Liebe können sie dem Pechvogel nicht nehmen – weil er eben auch ein Glückspilz ist.