«Für den Normalbürger taugt diese Justiz nichts»
Ein Pilot kehrt nach Jahren in die Schweiz zurück und kauft ein Mietshaus. Was er mit einem Messie-Mieter erlebt, lässt ihn am Rechtsstaat verzweifeln.
Veröffentlicht am 19. Dezember 2017 - 10:45 Uhr,
aktualisiert am 22. Dezember 2017 - 09:53 Uhr
Bis vor wenigen Tagen sass er am Steuerknüppel, flog grosse Maschinen. Peter Loser* war Linienpilot in den Arabischen Emiraten. Nach dem Swissair- und dem Crossair-Debakel hatte er das Angebot der Scheichs angenommen.
Nach mehreren Jahren Dubai sass er nun als Passagier in einem Flugzeug und guckte durch das ovale Fenster. Alles grün. Landeanflug auf die Heimat.
Die Jahre in der islamischen Diktatur hatten seine Sicht auf die Schweiz verändert. «Ich war dort ein Gastarbeiter ohne Rechte, sass mit Frau und Kindern in einem goldenen Käfig.» Da wurde ihm klar: «Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat. Das sind mehr als Floskeln. Sie machen ein gutes Leben erst möglich.» Das wollte der heute 50-Jährige zurück.
Er ahnte nicht, dass es keine sanfte Landung werden würde. Er hatte ja alles gut vorbereitet. An den Walensee wollte er, dort hatte er in einer kleinen Gemeinde bereits ein Haus gekauft. Ein Mehrfamilienhaus mit vier Mietparteien. Eigentlich wollte er auch mit seiner Familie dort einziehen. Es kam anders.
Einer seiner Mieter war – ziemlich speziell. «Die meisten Leute würden ihn wohl als Messie bezeichnen», sagt Loser. Der 74-jährige Mieter sieht sich dagegen als Künstler. Sein Schaffen wurde für Loser und die anderen Mieter immer unerträglicher. «Er füllte nicht nur seine Vierzimmerwohnung bis zur Decke mit Tausenden Gegenständen. Er breitete sich auch über den gesamten Garten um das Haus aus. Eine Müllhalde aus verrottenden Materialien, tonnenweise Holz, Plachen und viel Undefinierbares. Davor ein alter, nicht mehr eingelöster Twingo mit einem Plastiktopf und Holzbalken auf dem Dach. Er nannte das Gebilde sein Raumschiff.»
Das gigantische Puff wurde für Loser zu einem wirtschaftlichen Problem. «Wenn eine Wohnung frei wurde, konnte ich keinen Mieter mehr finden. Es war unzumutbar, hier zu wohnen. Ich bot dem ‹Künstler› mehrmals Hilfe beim Räumen des Gartens an. Ich hätte es auch akzeptiert, wenn er auf einem Teil des Grundstücks – etwas abgeschirmt – sein Werk hätte gedeihen lassen.»
Doch von alledem wollte sein Mieter nichts wissen. Denn jede Veränderung im Garten würde sein Werk zerstören. In einem Brief bezeichnet er die Gegenstände als «Chronoglypten». Dinge, die zusammenwachsen müssten und darum «schwerlich bis unmöglich zu dislozieren» seien.
Loser versuchte, bei der Gemeinde oder in der Verwandtschaft des Künstlers jemanden zu finden, der vielleicht Einfluss auf ihn hätte. Vergeblich.
Immerhin erfuhr er, dass sich das gleiche Drama schon einmal abgespielt hatte, am ehemaligen Wohnort des Künstlers in einer Zürcher Gemeinde. Damals dauerte es zwei Jahre, bis er das Haus nach der Kündigung räumte.
Loser entschied, dem Künstler zu kündigen. Korrekt teilte er ihm das auf einem offiziellen Kündigungsformular mit und räumte ihm die übliche dreimonatige Frist ein. Ende Oktober 2016 hätte der Mann die Wohnung verlassen und das Gartengelände räumen müssen. Er akzeptierte die Kündigung nicht, sie sei missbräuchlich. Vor der Schlichtungsstelle gab es keine Einigung. Der Künstler klagte. Weil er mittellos ist, bewilligte man ihm sogar einen unentgeltlichen Rechtsbeistand.
Dem Vermieter riet die Schlichtungsstelle, ein beschleunigtes Verfahren zu beantragen, da es sich um einen klaren Fall handle. Dafür musste Loser einen Vorschuss von 750 Franken zahlen. Man kann einen Erlass der Kosten beantragen, was Loser erfolglos versuchte. Der Entscheid dieser Frage kostete nochmals 500 Franken. Sein Gesuch um «Rechtsschutz in klaren Fällen» wurde darauf ebenfalls abgelehnt; Loser wurden die gesamten 1250 Franken in Rechnung gestellt.
Die Gratisanwältin hatte erfolgreich gewirkt. Der Fall sei überhaupt nicht klar, argumentierte sie in einer Eingabe. Denn der Künstler habe mit dem Vorbesitzer des Hauses einen Vertrag unterzeichnet, der die Nutzung des Gartens mit einschliesse. Loser war perplex. «Mir gehört das Haus, und ich habe auch das Gartenareal dazugekauft. Und der Mieter hat einen Vertrag mit mir unterzeichnet, in dem keine besondere Gartennutzung erwähnt wird.» Loser ärgerte sich über das kuriose Argument der Anwältin.
Aber der Fall musste jetzt vor das Kreisgericht. Doch dort war dann plötzlich alles anders. Die Anwältin zog die Eingabe wegen unrechtmässiger Kündigung ohne Begründung zurück. Sie verlangte nur noch eine längere Kündigungsfrist. «Warum dann das ganze Theater?», fragte sich Loser. «Um Stunden zu verrechnen? Um mir das Leben zusätzlich schwerzumachen?»
Der Künstler führte schriftlich aus, wie er das mit den Fristen sah. «Da bei der Räumung die meisten Werke vernichtet werden, möchte ich sie noch in einer Abschiedsausstellung publik machen.» Für die Vorbereitung des Anlasses brauche er mindestens ein halbes Jahr. Für den Abbau dann weitere sechs Monate. Die Anwältin beantragte darum eine Mieterstreckung bis Ende Oktober 2017, ein Jahr länger als die ordentliche Frist. Als Grund führte sie auch gesundheitliche Probleme des Künstlers an, die einen Umzug verlängern würden.
Mit dem gleichen Argument hatte der Künstler vor acht Jahren am Zürichsee eine Fristverlängerung um zwei Jahre erstritten. Als «Schmerzensmann» hatte er sich damals bezeichnet, der wegen einer heimtückischen Krankheit nicht mehr lange leben würde.
Im aktuellen Fall schlug die Richterin eine Fristverlängerung um fünf Monate vor. «Sie fragte mich, ob ich das als Vergleich akzeptieren würde. Oder ob ich ein Urteil wolle», erinnert sich Loser. Er verlangte ein Urteil, da er keinen Grund für eine weitere Fristverlängerung sah. «Der Mieter hätte das Haus bereits vor zwei Monaten verlassen müssen.»
Das folgende Urteil zerstörte Losers Vertrauen in die Justiz komplett. Es blieb bei den fünf Monaten. Zudem wurden ihm die gesamten Verfahrenskosten von 1200 Franken auferlegt. Und die Anwältin seines Mieters war nicht mehr unentgeltlich – Loser musste sie bezahlen, 3961 Franken.
Als die Forderung eintraf, lag Loser im Spital. Die Geschichte hatte ihm gesundheitlich arg zugesetzt. «Was habe ich eigentlich falsch gemacht?», fragt er sich noch heute. «Ich weiss es wirklich nicht.»
Im Urteil ist er die unterlegene Partei. Nicht weil seine Kündigung missbräuchlich gewesen wäre. Diesen Vorwurf hatte die Anwältin ja zurückgezogen. Aber er muss dem Mieter eine Fristverlängerung einräumen. «Ich habe mir überlegt, das Urteil mit einem Anwalt weiterzuziehen. Wenn ich gewinnen würde, müsste ja der Künstler die Kosten tragen.» Bloss gilt der als mittellos. Die Rechnungen würden wieder an Loser hängenbleiben. «Entweder man hat viel Geld oder gar keines. Für den Normalbürger taugt eine solche Justiz nicht», sagt Loser.
Die Kosten waren das eine, die wochenlangen Räumungsarbeiten das Schlimmere. «Die persönlichen Dinge zügelte die Kirche für den Künstler. Das ist okay. Das tonnenschwere Puff im Garten durfte ich dann räumen, mit Hilfe von Kollegen und meinen Söhnen.» Es dauerte Wochen. «Und es war eklig. Undefinierbares, verrottendes Zeugs. Darunter Kurioses wie eine Plazenta in Formaldehyd und aufgehängte tote Mäuse. Schliesslich musste die Gemeinde noch mit einem Bagger und mehreren Angestellten auffahren, um das Material zu entsorgen.»
Da hatte der Künstler schon eine neue Bleibe. Die letzten Monatsmieten wollte er nicht mehr bezahlen.
«Ich war selber mein Leben lang Mieter», sagt Loser. «Und auch ich habe mich über Verwaltungen und Vermieter aufgeregt. Wegen zu vieler Schuhe im Treppenhaus und solcher Dinge. Aber es ging immer darum, eine Lösung zu finden.» Dass in einem solch krassen Messie-Fall der Vermieter mit zusätzlichen Kosten und Fristverlängerungen praktisch bestraft wird, hätte er nicht für möglich gehalten. «Nicht in der Schweiz.»
Loser betreibt heute ein Guest-House, einen Familienbetrieb. Kürzlich hat er eine Busse von der Sozialversicherungsanstalt erhalten, weil er die Abrechnung für seine Angestellten nicht eingereicht habe. Allerdings: Loser hat keine Angestellten. «Das telefonisch oder schriftlich zu klären war nicht möglich. Ich musste bezahlen und dann vor Gericht ziehen, um Recht zu bekommen.»
Loser fragt sich manchmal, ob er schief gewickelt sei – oder ob sich die Schweiz während seiner mehrjährigen Abwesenheit so verändert hat.
Vom Künstler bekommt er manchmal noch Post. In einem der Briefe verlangt er sein Mietdepot zurück: «Ich warne Sie abermals, die Macht der Gebete und Zaubersprüche nicht zu unterschätzen, deren Wirkung in Kraft treten kann, wenn Sie mir die Kaution nicht anstandslos zurückerstatten.»
Loser und seine Frau setzten sich an einem Adventssonntag vor den Globus in der Stube. «Vielleicht gibt es ja noch etwas Besseres – irgendwo zwischen Dubai und New Switzerland.»
*Name geändert
4 Kommentare