Häuserkampf im Klosterdorf
Engelberg ist ein Zweitwohnungs-Paradies: An die 60 Prozent aller Wohnungen sind nur temporär belegt. Nach der Abstimmung nimmt der Bau-Irrsinn noch bizarrere Formen an.
Veröffentlicht am 15. März 2013 - 17:26 Uhr
Das Erste, was man von Engelberg sieht, sind gelbe Kräne, die hoch in die Luft ragen. Im Obwaldner Ort wird gebaut, was das Zeug hält. Vergleicht man die Baugesuche im Verhältnis zu den Einwohnerzahlen, wird im Moment in Engelberg rund zehnmal mehr gebaut als in Zürich. Dass die Bevölkerung das nicht nur gut findet, zeigte sich im März 2012 deutlich: Die Initiative für die Begrenzung des Zweitwohnungsbaus bekam von den Engelbergerinnen und Engelbergern 44 Prozent Ja-Stimmen – für einen Ort, der fast ausschliesslich vom Tourismus lebt und der bereits rund 2200 Zweitwohnungen hat, ein hartes Verdikt. 1990 hatte man noch versucht, den Bau von Zweitwohnungen per Gesetz zu reglementieren. Nach kurzer Zeit wurde das Gesetz auf Druck der Bauwirtschaft hin wieder aufgehoben.
«Vermutlich wollten viele mit ihrem Ja der uferlosen Bauerei endlich ein Ende setzen», sagt Elisabeth Brun, Präsidentin der SP Engelberg und seit 1977 dort wohnhaft. Doch im Moment sieht Engelberg aus, als reisse der Bauboom nicht ab. «Was jetzt gebaut wird, kann von Engelberger Baufirmen allein nicht abgedeckt werden», sagt der Engelberger Talammann Martin Odermatt, «viele kommen aus dem Tal herauf.» Damit geht auch ein Teil des Profits aus der Bautätigkeit aus Engelberg weg.
Als Odermatt 2011 Talammann (Gemeindepräsident) wurde, habe er sich vorgenommen, Martha Bächlers Werk fortzuführen. Sie war zehn Jahre lang Frau Talammann im 4300-Seelen-Ort. Odermatt und Bächler kennen sich aus dem Gemeinderat. «Wie sich unser Ort entwickeln soll, war und ist im Gemeinderat immer wieder ein Thema», sagt er. «Engelberg erlebt gerade eine dynamische Zeit, nicht nur, was den Wohnungsbau betrifft: Viele Grossprojekte stehen an, Hochwasserschutz, ein Schulhaus, die Abwasserreinigungsanlage, viele Strassensanierungen.»
Durch seine geografische Lage – der Ort am Talende ist eine Obwaldner Enklave, umgeben von den Kantonen Bern, Nidwalden und Uri – muss Engelberg für Infrastrukturanlagen aufkommen, wie sie sonst eine kleine Stadt hat. An der Person von Martha Bächler sieht man das Dilemma von Engelberg zwischen Bauen und Bewahren exemplarisch: Obwohl viele im Dorf sagen, sie sei die letzte politische Figur mit einer Vision für Engelberg gewesen, kann sie sich dem Beobachter gegenüber nicht äussern: Heute ist sie Geschäftsführerin der Standortförderung Obwalden.
Eines der jüngsten Beispiele für die Veränderung von Engelberg ist das Titlis Resort, das an der Engelbergerstrasse entsteht. Die Eröffnung der 135 Wohnungen in neun Häusern auf mehr als 13'000 Quadratmetern ist auf Dezember dieses Jahres geplant. Das Gemeinschaftsprojekt der Bergbahnen Titlis Rotair und der Eberli Generalunternehmung wirbt damit, noch vor der Abstimmung bewilligt worden zu sein, «auch der Wiederverkauf ist ohne Einschränkungen jederzeit möglich», verspricht die Homepage – eine klare Einladung an die Adresse von Spekulanten. Die Engelberger hatten die Mega-Überbauung seinerzeit wohlwollend angenommen, weil die Bauherrschaft vor dem Spatenstich versprochen hatte, man wolle kalte Betten auf jeden Fall verhindern: Man hätte die neuen Wohnungseigentümer verpflichten wollen, ihre Wohnungen weiterzuvermieten, wenn sie sie selber nicht oft genug nutzten.
Doch inzwischen haben die Titlisbahnen andere Sorgen. Sie brauchen Geld, nachdem ein Buchhalter sie um mehr als zehn Millionen Franken erleichtert hat. Also verkaufen sie die Wohnungen nun ohne Auflagen. Elisabeth Brun spricht aus, was viele im Dorf denken: «Das grenzt an eine Verschaukelung der gutgläubigen Einwohner.» Norbert Patt, Chef der Bergbahnen Titlis Rotair, sagt dazu: «Das Titlis Resort wurde ursprünglich als Warm-Betten-Konzept projektiert. Leider war die Finanzierbarkeit wegen fehlender Rentabilität nicht tragbar, und das unternehmerische Risiko war zu hoch, so dass wir das ursprüngliche Konzept nicht realisieren konnten.» Man rechnet mit 60'000 Logiernächten pro Jahr. Das gibt immerhin Geld. Gebaut wird das Resort auf Boden, der bis 2006 im Besitz des Klosters Engelberg war.
Das Titlis Resort soll gemäss Werbung ein «Dorf im Dorf» werden, ein Resort nach amerikanischem Vorbild, das die Gäste nicht mehr verlassen müssen, weil sie innerhalb der Überbauung alles vorfinden, was sie brauchen. Doch SP-Politikerin Brun sagt: «Wir brauchen kein Dorf im Dorf. Wir brauchen bloss ein einziges Dorf. Aber eines, das funktioniert.» Und eines, in dem man wohnen kann: Studiert man die Anschläge und Inserate in den Lokalblättern, wird schnell klar, dass sich die Mietpreise kaum von jenen Zürichs unterscheiden. «Mietwohnungen sind für Einheimische teilweise kaum mehr bezahlbar», sagt Elisabeth Brun. «Angestellte im unteren Lohnsegment finden immer weniger erschwingliche Angebote und ziehen weg von Engelberg.» Ein Phänomen, das man von vielen Schweizer Bergorten kennt, in denen der Tourismus und wohlhabende Fremde die Preise in die Höhe treiben.
Norbert Patt von den Titlisbahnen kontert: «Selbstverständlich wollen auch wir ein einziges Dorf. Die Frage ist, was ein Resort ist und welche zentralen Dienste angeboten werden. Um attraktiv zu sein, müssen gewisse Dienstleistungen innerhalb der Überbauung angeboten werden, sonst verkommt der Begriff Resort zur Farce.» Die Fronten sind klar.
Derweil entfernt sich Engelberg immer weiter davon, ein lebendiges Dorf mit einem alten Kern zu sein. An der Dorfstrasse sieht man deutlich, was der Bauboom aus dem alten Fussgängerzentrum gemacht hat. Wo früher Tante-Emma-Läden waren, in denen man alles Nützliche bekam, sind heute Schaufenster, hinter denen niemand ist, der einen begrüssen würde.
Eines davon gehört dem Immobilienbüro der Engelberg Industrial Group (EIG), die jüngst dem Kloster Engelberg das Traditionshotel Bänklialp abgekauft hat. Die Fenster des Büros sind mit einem Bergpanoramaposter verklebt, die Tür ist zu. Verwaltungsratspräsident der EIG mit Einzelunterschrift ist Ex-Nationalrat Bruno Zuppiger, das zweite Verwaltungsratsmitglied ist eine Russin namens Elitta Chayka.
Neben dem Victorinox-Laden war einst die Metzgerei Gabriel, sie ist einem Architekturbüro gewichen. Wo früher ein Eisenwaren- und Haushaltsgeschäft war, ist heute eine Galerie – «aber hier ist nie jemand drin», sagt eine Einheimische, die hier täglich mehrmals vorbeispaziert. Die Zeiten, wo man sich hier auf der Flaniermeile traf und plauderte, sind vorbei.
Doch nicht nur im Zentrum des Dorfs ändert sich vieles. So plant ein chinesischer Investor, den wunderschön renovierten Engelberger Kursaal mit einem Fünfsternehotel zu überbauen. Der Obwaldner Regierungsrat hat nach der Abstimmung über die Zweitwohnungsinitiative letztes Jahr empfohlen, keine Baubewilligungen mehr auszusprechen. Engelberg hat sich über diese Empfehlung hinweggesetzt, schliesslich liege die Bewilligungsautonomie noch immer bei den Gemeinden.
Während seit fünf, sechs Jahren in Engelberg gebaut wird, als ginge bald der Beton aus, haben sich die Fronten im Dorf verschoben: Es heisst nicht mehr einfach «Einheimische gegen Zweitwohnungsbesitzer». Elisabeth Brun sagt stellvertretend für viele Anwohner: «Zweitwohnungsbesitzer, die ihre Freizeit in Engelberg verbringen, hier einkaufen und sich am Dorfleben beteiligen, sind sehr willkommen. Wer nur Geld verdienen will und unser Dorf und unsere wertvolle Landschaft zubetoniert, nicht.» Die Dorfbevölkerung und mit ihr auch jene Zweitwohnungsbesitzer, die ihre Wochenenden und Ferien immer in Engelberg verbringen und sich um die Zukunft ihrer Zweitheimat sorgen, fragen sich inzwischen, wie weit die Gemeindeautonomie tatsächlich gehen darf. An der Schwandstrasse hat die Gemeinde den Bau eines Hauses so nah an die altmodisch schmale Strasse bewilligt, dass der Skibus nur noch mit Mühe daran vorbeikommt. Im Dorf heisst es, die deshalb nötig gewordene Verbreiterung der Strasse werde die Steuerzahler eine Million kosten. Wenn nicht noch mehr: Angeblich gehört der Boden auf der anderen Strassenseite der Frau des Architekten des Neubaus; man müsste ihr dann auch noch eine Abfindung zahlen.
«Von Gerüchten im Dorf halte ich wenig, denn wir haben uns wie alle Behörden an die gesetzlichen Vorlagen zu halten», wehrt sich Talammann Odermatt, der ausserdem Geschäftsführer der Firma Gebr. Odermatt AG ist, die 2012 Europas höchstgelegene Hängebrücke auf dem Titlis realisiert hat. «Wir haben das der Bevölkerung an der letzten Talgemeinde erklärt und auch die klaren gesetzlichen Vorgaben aufgezeigt, die uns keinen Spielraum zugestehen. Es geht hier unter anderem um eine Besitzstandsgarantie. Wenn die Bauherrschaft auf den klaren gesetzlichen Bestimmungen besteht, sind dem Einwohnergemeinderat die Hände gebunden. Das Projekt für die Schwandstrasse sieht im Bereich dieses Hauses eine talseitige Verbreiterung vor.»
Dennoch ist Odermatt nicht vorbehaltlos mit allem einverstanden. Die Entwicklung der Dorfstrasse findet er nicht nur gut: «Die Büros hätten auch in der hinteren Reihe Platz, die würde man dort auch finden. Die Schaufenster sollten Flanierzone sein.» Die Läden, die noch da sind, gehören oft den Ladenbesitzern. Aber Odermatt appelliert auch an die Anwohner: «Man sollte die Dorflädeli nicht nur im Notfall nützen, wenn man beim Grossverteiler im Unterland etwas vergessen hat. Da muss sich jeder an der eigenen Nase nehmen.»
Es habe, sagt Odermatt, schon vor der Zweitwohnungsinitiative eine hohe Bautätigkeit gegeben in Engelberg. «Wir haben im Gegensatz zu anderen Tourismusorten nach der Annahme der Zweitwohnungsinitiative keine massive Zunahme an Baugesuchen erlebt.»
Das bestätigt Rolf Walther, Präsident der IG Engelberg, der Interessengemeinschaft der Eigentümer von Ferienhäusern, Ferienwohnungen und der Dauermieter von Ferienwohnungen: «Im Gemeinderat von Engelberg ist man traditionell sehr baunah. Das ist nicht nur schlecht, es gibt auch viele Neubauten, die Sinn machen und nützlich sind. Auch im Zentrum gibt es einige gute Neubauten. Aber es gibt auch Häuser an der Dorfstrasse, die praktisch in die Strasse hineinragen.»
Für Martin Odermatt erfordert seine Position zwischen Gemeinderat und Anwohner oft eine Gratwanderung: «Mir ist das Tal hier sehr lieb. Ich bin in einem der schönsten Täler der Schweiz aufgewachsen und hier stark verwurzelt. Vor über 100 Jahren haben unsere Vorfahren Ja gesagt zum Tourismus. Seither hat Engelberg sehr gut von und mit diesem wichtigen Wirtschaftszweig gelebt.» Doch es sei legitim, dass die Engelberger sich heute fragen: Was darf noch sein? «Es kommen viele Gäste, die bei uns nicht nur Ski fahren, sondern auch die Landschaft geniessen wollen. Wir müssen den Schönheiten der Natur Sorge tragen und sie für kommende Generationen erhalten. Es allen recht zu machen wird uns nicht gelingen.»
Nicht nur die Politiker seien gefordert, sondern alle Einwohner. Wer in Engelberg eine sogenannt heile Welt sucht, findet sie nach wie vor. «Aber», so Martin Odermatt, «es erfordert den Einsatz von allen, damit sie nicht ganz verschwindet.»