KV-Lehrling mit Leseschwäche bekommt mehr Zeit
Ein junger Mann leidet an Dyslexie. Die Berufsschule ignoriert das. Nun bekommt sie vom Verwaltungsgericht St. Gallen die Quittung.
Veröffentlicht am 16. Dezember 2024 - 15:55 Uhr
Wie steht es um die Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem? Auf dem Papier: gut. Die integrative Schule ist etabliert, wer Einschränkungen hat, bekommt schon ab der Primarschule zusätzliche Unterstützung und einen sogenannten Nachteilsausgleich. Doch wer genauer hinsieht, merkt: Im Alltag funktioniert es nicht immer so, wie die Verfassung es vorschreibt.
Das zeigte sich letztes Jahr, als die 20-jährige Marion Vassaux vor Bundesgericht ziehen musste, weil ihr beim Numerus clausus nicht mehr Zeit für die Prüfung gewährt wurde – obwohl sie aufgrund ihrer Dyslexie darauf Anspruch gehabt hätte.
Berufsschule verweigert Nachteilsausgleich bei Prüfungen
Und es zeigt sich jetzt im Fall eines jungen KV-Lernenden, dem die Berufsschule ebenfalls keinen Zeitzuschlag bei Prüfungen gewährte.
Das kantonale Amt für Berufsbildung in St. Gallen begründete seinen Entscheid damit, dass Lesen und Schreiben «zu den elementaren und unentbehrlichen Grundfertigkeiten für den Beruf als Kaufmann EFZ» gehören.
Deshalb dürften die Anforderungen in diesem Fall nicht herabgesetzt werden. Eine Lese- und Rechtschreibschwäche verhindere respektive beeinträchtige die Ausübung des kaufmännischen Berufs massgeblich.
Gar nicht erst in die KV-Lehre?
Soll das heissen, dass Menschen mit Dyslexie gar nicht erst eine KV-Lehre machen sollen? Weil sie für gewisse Aufgaben länger brauchen?
Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen sieht das anders. Erst durch den Zeitzuschlag könne der Lehrling bei schriftlichen Prüfungen sein tatsächlich vorhandenes Wissen zeigen – und nur so mit den anderen Berufsschülerinnen verglichen werden.
Dem Urteil ist zu entnehmen, dass die Bankfiliale, bei der der 17-Jährige seine Lehre macht, mit ihm äusserst zufrieden ist. Seine Leistungsbeurteilung fällt gut bis sehr gut aus – was gegen die Ansicht spricht, dass er für diesen Beruf nicht geeignet sein könnte.
Beschwerden müssen kostenlos sein
Bei seiner Klage unterstützt wurde der junge Mann von der Organisation Inclusion Handicap – im Rahmen eines Projekts zur Finanzierung solcher Gerichtsverfahren. Dabei hätte das im vorliegenden Fall gar nicht nötig sein müssen.
Wie das St. Galler Gericht klar festhält, ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) auf die Berufsbildung anwendbar. Das Beschwerdeverfahren müsste entsprechend kostenlos sein – die Vorinstanzen hatten vom Jugendlichen rechtswidrig Kostenvorschüsse verlangt und ihm Gerichtskosten auferlegt.
Urteil stärkt Rechte von Menschen mit Behinderungen
Inclusion Handicap reagiert erfreut auf den Erfolg. «Mit dem Entscheid des St. Galler Gerichts wird der Anspruch auf Nachteilsausgleich auch im Bereich der Berufsbildung gefestigt – ein weiterer wichtiger Entscheid zur Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen im Schweizer Bildungssystem», schreibt die Organisation in einer Medienmitteilung.
Der Entscheid sei – wie schon das Urteil im Fall Vassaux – «ein wichtiges Statement für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen». Wenn das Urteil im Januar rechtskräftig wird, könnte es auch für andere Kantone wegweisend sein.
- Urteil B 2024/130 des Verwaltungsgerichts St. Gallen
- Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
- Behindertengleichstellungsgese
tz (BehiG) - Projektbeschrieb We Claim von Inclusion Handicap
- Medienmitteilung Inclusion Handicap