Kommentar zu Verschwörungstheorien
Medien haben Macht – und damit Verantwortung
Eine Artikelserie um die siebenjährige Nathalie wurde zum Narrativ für deutsche Reichsbürger, die die Regierung stürzen wollten. Der Fall ist ein Lehrstück für den Journalismus.
Veröffentlicht am 21. Juli 2024 - 07:22 Uhr
Am Anfang stand der Streit um ein Besuchsrecht. Am Ende der Plan von deutschen Reichsbürgern, die Regierung mit Gewalt zu stürzen, unter anderem weil angeblich Eliten in einem Tunnelsystem Kinder töten und deren Blut trinken sollen. Das zeigt die Beobachter-Recherche «Die Reichsbürger und der Schweizer Journalist» auf.
Wie können aus dem Kampf um ein Kind eine wirre Verschwörungstheorie und ein handfester Umsturzplan entstehen? Und welche Rolle spielt Journalismus dabei? Die kurze Antwort: eine grosse.
Im Zentrum der Verschwörungstheorie der deutschen Reichsbürger steht der «Fall Nathalie», den der damalige Chefreporter der «Basler Zeitung» (BaZ) mit zahlreichen Artikeln beschrieben und dabei die Kindesschutzbehörde kritisiert hatte.
Verdrehte Fakten
Die Kesb soll die siebenjährige Nathalie über Monate zu Besuchen beim Vater gezwungen haben, obwohl dieser «nackt im Haus gekocht» und sich «sein Glied eingerieben, bis es sich bewegt» habe. Dem Vater wurde zudem vorgeworfen, satanistische Rituale durchgeführt zu haben.
Der Fall hielt weder den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft noch einer gerichtlichen Überprüfung stand. Das Verfahren wurde eingestellt, die Einstellung vom Bundesgericht bestätigt. «Nicht der geringste objektive Hinweis» sei gefunden worden.
Bei Nathalies Aussagen habe es sich um Fremdsuggestion aus ihrem Umfeld gehandelt. Nathalies Falschaussagen seien zudem durch «die Presse» weiter befördert worden. Trotzdem wurde der Fall zum zentralen Narrativ, mit dem eine Gruppe von deutschen Reichsbürgern ihre Umsturzpläne rechtfertigte.
Verheerende Folgen
Der Chefredaktor der BaZ hat sich für die Berichterstattung entschuldigt. «Wir haben unsere Qualitätsstandards nicht immer eingehalten, und die Kontrollinstanzen, die diese sicherstellen, haben nicht funktioniert.»
Der Chefreporter wurde sogar entlassen. Er sieht keine Fehler in seiner Arbeit. Er habe sich auf zahlreiche Quellen gestützt, auf unabhängige Fachleute und Akten der Kesb. Für die deutschen Reichsbürger war die Entlassung ein Beweis, dass ihre Theorien wahr seien, weil Kritiker zum Schweigen gebracht würden.
Das Beispiel zeigt die verheerenden Folgen, die Journalismus haben kann – auch ungewollt. Sie lassen sich nie gänzlich verhindern, aber minimieren. Deshalb halten wir beim Beobachter journalistische Sorgfaltspflichten wie Faktencheck, Fairness und Unabhängigkeit hoch. Das ist wichtig. Denn: Medien haben Macht. Und somit viel Verantwortung.
1 Kommentar
NEIN zur allgemeinen Medienförderung: Wie kommen wir zu einer echten Medienvielfalt?
Obwohl die Bürger:innen einer Medienförderung in der Volksabstimmung vom 13. Februar 2022 eine deutliche Abfuhr erteilt haben, will das Bundesparlament sie wieder aufleben lassen.
Haben die Parlamentarier:innen denn etwa eine Volksbefragung durchgeführt, welche Artikel des Mediengesetzes «unbestritten» seien? Konnte das Volk ankreuzen, welche Teile es ablehne und welche es annehme? Nein, es lehnte eine noch höhere Subventionierung der Medien ab – das ist das demokratische Verdikt.
Gemäss einer Nachabstimmungsbefragung war das wichtigste Argument für das Nein der Stimmbürgerschaft die Überzeugung, «dass staatlich geförderte Medien ihre Wächterrolle nicht mehr wahrnehmen».
Wenn man schon den politischen Auswirkungen des freien Medienmarktes misstraut, nähme mich Wunder, wie der Bund gedenkt vorzugehen, damit sich die verschiedenen politischen Strömungen gemäss ihrem heutigen Gewicht bei den Medien zur Geltung bringen können. Da genügt halt eine weitere allgemeine Unterstützung der Mainstream-Medien nicht. Die politische Ausrichtung der privaten Medien wird heute dominiert von Interessen der Medienbesitzenden.