Kurz vor Mitternacht im Februar 2023, es ist stockdunkel und schüttet wie aus Kübeln. Auf der Autobahn A1 ist viel los, die Sicht schlecht. Die roten Rücklichter spiegeln sich auf dem nassen Asphalt. Stefan Allenbach (Name geändert) beschleunigt seinen BMW auf der Einfahrt in Zürich-Seebach in Richtung St. Gallen. Er hatte einen langen Tag und will nur noch nach Hause.

Viel zu spät sieht der 33-Jährige den Mercedes vor sich auf dem Beschleunigungsstreifen stehen. Allenbach kann nicht mehr ausweichen. Er touchiert zuerst das Auto und prallt dann mit voller Wucht in einen Mann. Dieser wird meterweit durch die Luft geschleudert, bricht sich beim Aufprall die Halswirbelsäule und stirbt noch am Unfallort.

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«Das Opfer hat fast alle Regeln missachtet, das steht fest.»

Staatsanwalt vor Gericht

An die Kollision kann sich Stefan Allenbach nicht mehr erinnern – er hat einen Filmriss. In seinem Blut ist über ein Promille Alkohol. Eine Überwachungskamera hat alles aufgezeichnet, auch was vorher passierte: Das Opfer Karl Keller (Name geändert) ist kurz zuvor selber mit einem anderen Auto auf dem Beschleunigungsstreifen zusammengestossen, beide Autos haben angehalten.

Die Polizei rufen die Beteiligten nicht. Doch Keller besteht darauf, dass die Autos genau so stehen bleiben, wie sie sind – der 61-Jährige will Fotos machen. Sogar der Staatsanwalt sagt später am 24. Oktober 2024 vor dem Bezirksgericht Zürich: «Das Opfer hat fast alle Regeln missachtet, das steht fest.» 

Unfall auf der Autobahn – was tun?

Generell gilt: Die Polizei muss man bei einem Unfall nur rufen, wenn sich die Beteiligten nicht einigen können oder sich jemand verletzt hat. Bis die Polizei eintrifft, muss alles da bleiben, wo es ist. Ausser wenn Verletzte geschützt werden sollen oder der Verkehr nicht anders zu sichern ist: Dann müssen die Autos verschoben werden. Jemand muss aber mit Kreide markieren, wie die ursprüngliche Situation aussah. 

Auf der Autobahn oder einer Autostrasse ist das hingegen viel zu gefährlich. Hier muss man immer die Polizei rufen und die Fahrzeuge möglichst von der Fahrbahn wegbringen. Karl Keller und der Fahrer des anderen Fahrzeugs hätten ihre Wagen also etwas weiter vorne auf den Pannenstreifen stellen müssen. Zudem wäre es erforderlich gewesen, nicht nur die Warnblinker einzuschalten, sondern auch eine Warnweste zu tragen und ein Warndreieck aufzustellen. Und: Beide Fahrer hätten sich, statt auf dem Beschleunigungsstreifen umherzulaufen, in Sicherheit bringen müssen.

Und was ist mit Stefan Allenbach, dem Fahrer des letzten Wagens? 

Fahren auf der Autobahn – womit muss man rechnen?

Das Radio melde täglich Gegenstände, Tiere oder gar Menschen auf der Autobahn. Das sagt der Anwalt der Ehefrau des Verstorbenen vor Gericht.

Wer auf der Autobahn unterwegs ist, muss mit allem rechnen – so will es die sogenannte Stuhl-Praxis des Bundesgerichts. Der Begriff geht auf einen Fall zurück, als ein Autofahrer auf der Autobahn einem Stuhl ausweichen wollte, der auf der Fahrbahn lag. Er geriet dabei ins Schleudern und verunfallte. Das Bundesgericht entschied: Fahrerinnen und Fahrer müssen auch auf der Autobahn auf Sichtweite anhalten können und nachts auch mit unbeleuchteten Hindernissen rechnen, wie eben einem heruntergefallenen Stuhl.

Stoppen oder ausweichen konnte Stefan Allenbach offensichtlich nicht. Auch zwei Autofahrer vor ihm konnten nur mit Mühe um die Unfallwagen herumfahren. Doch das überzeugt die Richter nicht. Sie sprechen Allenbach schuldig wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln. Auch weil er betrunken und nicht fahrfähig war.

Weil fahrlässige Tötung hinzukommt, spricht das Gericht eine Freiheitsstrafe von insgesamt 16 Monaten aus. Eigentlich wären es 18 Monate, davon ziehen die Richter zwei Monate ab, weil sich das Opfer falsch verhielt. Da Stefan Allenbach zuvor noch nie eine Straftat begangen hat, wird die Strafe aufgeschoben. Wenn der zweifache Familienvater während der zwei Jahre dauernden Probezeit nicht straffällig wird, bleibt ihm das Gefängnis erspart. 

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der Verurteilte kann es ans Zürcher Obergericht weiterziehen. «Es tut mir von Herzen extrem leid», sagt er am Schluss der Verhandlung.